Geschlechtsidentität

Die Geschlechtsidentität sagt aus, als welches Geschlecht man sich fühlt. Man kann sich z.B. als Frau fühlen oder als Mann. Man kann sich auch als nicht-binär fühlen oder als trans*. Dabei ist es zunächst nicht wichtig, ob man einen weiblichen oder einen männlichen Körper hat, oder welches Geschlecht man begehrt und attraktiv findet. Es ist dabei auch nicht wichtig, wie man sich verhält oder kleidet. In zweigeschlechtlichen Gesellschaften wird erwartet, dass man sich entweder als Mann oder als Frau fühlt. Und das ist dann vor allem davon abhängig, in welchem Körper man geboren wurde. Deshalb ist es für viele Menschen schwierig, ihre eigene Geschlechtsidentität herauszufinden oder offen zu ihr zu stehen. Die Geschlechtsidentität kann sich im Laufe des Lebens auch ändern.

Die Geschlechtsidentität eines Menschen bezeichnet das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem, keinem oder mehreren Geschlechtern. Teilweise wird die Geschlechtsidentität auch als das gefühlte Geschlecht oder als Geschlechtsempfinden bezeichnet. Die Geschlechtsidentität wird unterschieden vom biologischen Geschlecht, juristischen Geschlecht, dem Geschlechtsausdruck und der sexuellen Orientierung.

Wie das Individuum zu der eigenen Geschlechtsidentität kommt, ist schwer zu erforschen, da diese Identitätsbildung in der Regel bereits in jungem Alter stattfindet. Die Theorien dazu bewegen sich von genetischer Vorbestimmung über Modelle psychosexueller Entwicklung nach Freud zu Sozialisationstheorien und Kombinationen dieser Ansätze. Auch ist strittig, inwiefern die Identität sich im Verlauf des Lebens noch ändern kann oder ob es sich nicht um echte Veränderungen, sondern lediglich ein späteres Gewahrwerden/Ausleben einer schon immer vorhandenen Identität handelt. In zweigeschlechtlichen, hetero– und cisnormativen Kulturen ist die normative Erwartung, dass ein Mensch eine Geschlechtsidentität entwickelt, die dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht entspricht, also z.B. ein Neugeborenes mit einem als männlich zugewiesenen Körper entwickelt im Laufe des Lebens eine Identität als Mann und umgekehrt. Intergeschlechtliche Menschen waren/sind in dieser Logik nicht vorgesehen, wurden lange Zeit und teilweise immer noch einem körperlichen Geschlecht zwangsangepasst und sollten dann vom Umfeld so erzogen werden, dass sie eine Identität passend zum vereindeutigten Geschlecht entwickeln sollten (was häufig nicht mit Erfolg gekrönt war). Ferner wird erwartet, dass eine solche normkonforme Geschlechtsidentität auch entsprechend nach außen ausgedrückt wird, indem z.B. das äußere Erscheinungsbild, Verhalten, Berufswahl usw. konventionellen Frauen- bzw. Männerbildern entsprechen sollen. Dazu gehörte traditionell auch ein heterosexuelles Begehren als ‚natürlich‘ verstandenes. Geschlechter- und sexuelle Normen sind tatsächlich in der Vorstellung so stark miteinander verknüpft, dass ein schwules oder lesbisches Begehren bereits die Geschlechtsidentität infrage stellte, sowohl in der Außensicht (Absprechen von ‚echter‘ Männlichkeit/Weiblichkeit) als auch innere Verunsicherung. So verwischen die Grenzen zwischen sexueller und Geschlechtsidentität in vielen LSBTIQA* Biographien zumindest phasenweise.

Die Queer-Theoretikerin Judith Butler bezeichnet diese impliziten kulturellen Erwartungen als heterosexuelle Matrix. Sie entwirft ein theoretisches Modell von Geschlecht als performativ hergestellt, mit dem sie weit verbreitete Alltagsweisheiten über Geschlecht (erst kommt der Körper, dann die Identität) auf den Kopf stellte:
Nach Butler stellen wir alle unser Geschlecht in Interaktionen mit unserem Umfeld ständig her und dar. Dies geschieht zumeist unbewusst und routiniert und vor allem in einem eng gesteckten Rahmen normativer Vorgaben, wie man sein Geschlecht darstellen muss, um vom Umfeld auch als ‚Mann‘ oder ‚Frau‘ verstanden/wahrgenommen zu werden. Auch hat dieses ‚Performen‘ des eigenen Geschlechts einen Zwangscharakter, weil wir diese Darstellungen ständig wiederholen müssen, um vom Gegenüber als das ‚richtige‘ Geschlecht gelesen zu werden. Nach Butler ist es nun so, dass erst durch diese ständigen, zwanghaft sich wiederholenden Geschlechterperformances nach außen hin sich der innere Kern, also die Geschlechtsidentität erst verfestigt und entsteht und schließlich als ‚immer schon da‘ empfunden wird. Die Geschlechtsidentität ist also nicht ‚natürlich‘, sondern kulturell und sozial hergestellt. Bei der Entwicklung der Geschlechtsidentität bei Menschen mit Behinderung dürften daher auch die gesellschaftlichen Vorstellungen von Behinderung eine Rolle spielen. So wurden und werden Menschen mit Behinderungen oft als ‚Neutrum‘ gesehen, ihnen also Geschlecht und Sexualität somit abgesprochen. Butlers Modell stößt hier an seine Grenzen, weil anzunehmen ist, dass Menschen mit Behinderungen vor allem widersprüchlichen Anrufungen und Erwartungen aus dem Umfeld ausgesetzt sein dürften: Einerseits werden sie teilweise weniger als Frauen/Männer angesprochen, andererseits ist ihre Umgebung dennoch genauso stark durch Männer- und Frauenbilder geprägt.

Die Mehrheit der Menschen entwickelt eine Geschlechtsidentität, die aus der Sicht der Norm zum biologischen Körper/Zuweisung bei der Geburt passt, diese bezeichnet man als cis-Personen. Jedoch schon bei cis-Personen gibt es sowohl bei Männern als auch bei Frauen unterschiedliche Geschlechterstereotypen sowie eine Bandbreite von Geschlechtsausdrücken, also von der Art und Weise, wie das Individuum sein eigenes gefühltes Geschlecht mit Sinn und Inhalt füllt und im Alltag lebt. Wenn man sich wieder auf Butler bezieht, so liegt das u.a. daran, dass kein real existierender Mensch Geschlechterideale (von Mann/Frau) bruchlos verkörpern kann. So entstehen im Vorgang des sich ständig wiederholenden Darstellens immer wieder leichte Bedeutungsverschiebungen. Bewusst wird dies z.B. in der Geschlechterparodie, z.B. durch die Praxis des Drag genutzt. Ein Geschlechtsausdruck einer Frau kann dabei z.B. (bewusst oder unabsichtlich) auch ‚typisch männliche‘ Aspekte enthalten und umgekehrt, sodass also Geschlechtsidentität und Ausdruck nicht notwendigerweise übereinstimmen müssen. (Nach Butler wäre es allerdings ab einem bestimmten Punkt nicht mehr möglich, als ‚Frau‘ gelesen zu werden, wenn die Darstellung zu ‚männlich‘ wäre.) Weiterhin gibt es Personen, die eine Geschlechtsidentität entwickeln, die nicht dem biologischen Geschlecht bei der Geburt entspricht, diese werden als trans* bezeichnet. Das heißt, dass auch biologisches Geschlecht und Geschlechtsidentität nicht zwangsläufig übereinstimmen müssen. Da es sich bei der Geschlechtsidentität um ein subjektives Zugehörigkeitsgefühl zu einem Geschlecht handelt, kann es also nicht von außen anhand des biologischen Geschlechts ‚objektiv‘ festgestellt werden. Auch der Geschlechtsausdruck kann zwar Hinweise auf die damit ausgedrückte Geschlechtsidentität geben, es wäre aber auch möglich, dass eine Person ihre Geschlechtsidentität nicht-konform, sozusagen nach den eigenen Regeln, ausdrückt. Daher wird insbesondere in trans*- und inter (-freundlichen) Kontexten als Gegensatz zur Logik der heterosexuellen Matrix ein Umgangsweise etabliert, in der man die Geschlechtsidentität eines Menschen nicht von außen ableitet, sondern sich nach der Selbstdefinition richtet.


Literatur

  • Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Freud, Sigmund ([1925] 1948): Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. XIV: Werke aus den Jahren 1925-1931. London: Imago Publishing, S. 19-30.
  • Rauchfleisch, Udo (2020): Sexuelle Orientierungen und Geschlechtsentwicklungen im Kindes- und Jugendalter. Stuttgart: Kohlhammer.