Soziales Geschlecht

Unter sozialem Geschlecht versteht man die Einordnung eines Menschen in ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ anhand äußerer Merkmale. Solche Merkmale sind z.B. die Frisur, die Kleidung oder das Parfum. In vielen Gesellschaft sagt die Norm, dass es nur zwei soziale Geschlechter gibt, Männer und Frauen. Manchmal sagt man auch, dass sich ein Mensch ‚typisch männlich‘ oder ‚typisch weiblich‘ verhält und deswegen ein Mann oder eine Frau ist. Das soziale Geschlecht ist gemacht und folgt keiner natürlichen Regel. Jede Gesellschaft hat für sich eigene Regeln, was als männlich und was als weiblich gilt. In vielen Ländern gilt es als weiblich, wenn man sich schminkt, lange Haare hat und Kleider trägt. In vielen Ländern gilt es als männlich, wenn man kurze Haare oder einen Bart hat. Auch Verhaltensweisen und Aufgaben werden in Gesellschaften nach dem sozialen Geschlecht getrennt. Früher sollten nur Männer arbeiten und Frauen sich um die Kinder kümmern. Männer durften nicht weinen und Frauen durften nicht wütend werden. Das ändert sich aber gerade. Wir lernen durch die Eltern, in der Schule oder durch die Medien, wie Männer und Frauen sein sollen, welchen Beruf sie wählen oder wie sie sprechen sollen. Menschen mit Behinderungen wurde oft gar kein soziales Geschlecht zugeteilt. Sie waren sozusagen geschlechtslos. Auch das ändert sich gerade.

In der Geschlechterforschung wird häufig zwischen dem biologischen Geschlecht (englisch: „sex“) und dem sozialen Geschlecht (englisch: „gender“) sowie der Geschlechtsidentität (englisch: „gender identity“) unterschieden. Diese Unterscheidung kann verdeutlichen, dass der Geschlechtskörper nicht bestimmt, wie Männer und Frauen sind, zu sein haben oder welche Rolle sie in der Gesellschaft einnehmen sollten. Stattdessen kann die Forschung untersuchen, wie menschengemachte Strukturen, Institutionen, Traditionen, Ideologien, Vorstellungen, alltägliche Praxen und Routinen usw. erst das soziale Geschlecht sowie die Unterscheidung in zwei Geschlechter hervorbringen. Z.B. folgt aus der Gebärfähigkeit von (den meisten) cis Frauenkörpern nicht zwangsläufig, dass sie für die Versorgung von Kindern zuständig sein müssen, sondern dies ist eine gesellschaftliche bzw. kulturelle Vorstellung, die auch historisch wandelbar ist.

Der Begriff ‚soziales Geschlecht‘ steht dabei in enger Verbindung zu Theorien, die davon ausgehen, dass die Geschlechterordnung keine natürliche Tatsache ist, sondern sozial konstruiert, also durch menschliches Handeln und gesellschaftliche Institutionen hervorgebracht wird. Zentral sind dabei die Prozesse, in denen die Menschen Körpern, Handlungen, Charaktereigenschaften, usw. bestimmte Bedeutungen zuschreiben, um ihnen einen Sinn zu geben, um ihre Umwelt, ihre Alltagswelt zu ordnen und zu verstehen. Dabei kommt es jedoch zu unzulässigen Verallgemeinerungen und Stereotypisierungen, wie z.B., dass Frauen emotionaler seien als Männer.

Der theoretische Ansatz des ‚Doing Gender‘ betont z.B., dass Geschlecht nicht etwas ist, das Menschen einfach qua Geburt oder Natur sind, sondern dass wir Geschlecht tun, also Geschlecht in alltäglichen Interaktionen, Beziehungen und Institutionen herstellen. Das betrifft sowohl die Unterscheidung in Männer und Frauen, das Verhältnis zwischen Männern und Frauen als auch unter Frauen und unter Männern sowie, welche Eigenschaften Frauen bzw. Männern zugeschrieben werden. So sorgen Institutionen wie der Personenstand, Personalpronomen in der deutschen Sprache, nach Geschlechtern getrennte Räume/Einrichtungen wie öffentliche Toiletten, Umkleidekabinen oder Obdachlosenunterkünfte dafür, dass eine Trennung in Mädchen und Jungen bzw. Frauen und Männer selbstverständlich, logisch, natürlich oder gar zwingend erscheint. Darüber hinaus ist dies kein neutraler Vorgang, sondern geht einher mit der Vorstellung, dass Mädchen/Frauen und Jungen/Männer unterschiedliche Wesen sind und dass diese Unterschiedlichkeit auch eine unterschiedliche, ungleiche Behandlung von Menschen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit rechtfertigen würde.

Auf der Ebene der alltäglichen Interaktion erfolgt die Zuordnung eines Individuums zu einem Geschlecht standardmäßig nicht anhand von Genitalien, Chromosomen oder dem Personenstand, da diese in der Öffentlichkeit in der Regel nicht sichtbar sind. Stattdessen wird das Geschlecht getan, inszeniert, und zwar durch die Gestaltung der Körper (z.B. durch Kleidung, Frisuren, Schminke, Deodorant), durch rollenspezifisches Verhalten (z.B. Körperhaltung, Gestik, Mimik, Ausdruck von Emotionen, Interessen, Hobbys, Berufswahl) und auch im Umgang zwischen den Geschlechtern (z.B. kavalierhaftes Verhalten von Männern gegenüber Frauen, das jene als ‚schwaches‘ Geschlecht konstruiert) oder den Geschlechtern untereinander (z.B. Konkurrenzverhalten/Wettbewerb unter Männern). Dieses Tun von Geschlecht sendet anderen Menschen Signale, die es aufgrund von kulturell geteiltem, sozialisiertem und anerzogenem Wissen als ‚typisch männlich‘ oder ‚typisch weiblich‘ entziffern können. Die Einordnung eines Menschen zu einem Geschlecht erfolgt so unbewusst innerhalb Bruchteilen von Sekunden. Gleichzeitig kann kein real existierender Mensch Geschlechterstereotypen/-normen bruchlos entsprechen, sodass sich in der alltäglichen Praxis der Darstellung und Verkörperung von Geschlecht auch immer Spielräume der Interpretation dessen auftun, was Geschlecht bedeutet. Diese Spielräume können z.B. in Geschlechterparodien wie Drag oder dem Entwickeln neuer, non-konformer Praxen und Identitäten (z.B. nicht-binär) auch genutzt werden, um die herrschenden Normen zu unterlaufen und infrage zu stellen. Das bewusste Hinterfragen der Sinnhaftigkeit oder Legitimität der Kategorie Geschlecht mit dem Ziel, den Dualismus ‚Mann/Frau‘ zu überwinden, wird auch als ‚Dekonstruktion‘ bezeichnet (im Anschluss an den französischen Philosophen Jacques Derrida). Auch die Soziale Arbeit ist auf unterschiedliche Art an dieser sozialen Konstruktion (und ggf. auch an Versuchen der Dekonstruktion) von Geschlecht beteiligt. Mittlerweile gibt es u.a. eine Fülle von Literatur zum Thema geschlechterreflektierende Pädagogik.

Die Konstruktion von Geschlecht findet dabei nicht unabhängig von den Konstruktionsprozessen anderer gesellschaftlicher Differenzkategorien wie ‚Race‘, Alter oder auch Behinderung statt. Vielmehr sind z.B. Geschlechterstereotype auch klassenspezifisch usw. So wurde Menschen mit Behinderungen lange Zeit ihre Männlichkeit/Weiblichkeit abgesprochen und sie quasi als ‚Neutrum‘ behandelt, was in einer Gesellschaft, in der die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht so bedeutsam ist, eine höchst problematische Abwertung darstellt. Da Behinderung (zu Unrecht) häufig in unserer Kultur mit Schwäche assoziiert wird und Männlichkeit mit Stärke, passten z.B. aus der ableistischen und sexistischen Sicht Männer mit Behinderung nicht ins typische Bild von Männern. Während von Frauen ohne Behinderungen vor allem erwartet wurde und wird, dass sie die Mutterrolle einnehmen, wurde und wird Frauen mit Behinderungen aufgrund ihrer Behinderung das Recht auf eigene Kinder bisweilen immer noch verweigert bzw. mit diversen Barrieren versehen. Menschen mit Behinderungen haben wie alle Menschen jedoch ein Recht darauf, ihr eigenes Geschlecht so zu leben, wie sie es für richtig halten: Als Mann/Frau/trans* Person usw. Auch sie sollen konventionellen Geschlechterbildern entsprechend oder diese hinterfragend, mit Elternschaft oder ohne leben und darüber selbst bestimmen dürfen (Selbstbestimmung).


Literatur

  • Connell, Raewyn (2015): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Wiesbaden: Springer VS, 4. Auflage.
  • Dissens e.V. u.a. (Hrsg.) (2012): Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen an der Schule. Texte zu Pädagogik und Fortbildung rund um Jungen, Geschlecht und Bildung. Berlin: Dissens e.V.
    Online unter www.dissens.de/…, Stand: 20.10.2022
  • Ewinkel, Carola/Hermes, Gisela (Hrsg.) (1986): Geschlecht: behindert. Besonderes Merkmal: Frau. Neu-München: AG SPAK, 2. Auflage.
  • Gildemeister, Regine/Wetterer, Angelika (1992): Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung. In: Knapp, Gudrun-Axeli/Wetterer, Angelika (Hrsg.): TraditionenBrüche. Entwicklungen feministischer Theorie. Freiburg: Kore, S. 201-254.
  • Goffman, Erving (2001): Interaktion und Geschlecht. Frankfurt am Main/New York: Campus, 2. Auflage.
  • Kessler, Susan J./McKenna, Wendy (1978): Gender. An Ethnomethodological Approach. Chicago u.a.: University of Chicago Press.