Sexuelle Orientierung und sexuelle Identität

Die sexuelle Orientierung einer Person beschreibt, welches Geschlecht oder welche Geschlechter sie sexuell anziehend findet, in Fantasie und/oder Realität begehrt bzw. für eine Liebesbeziehung in Betracht zieht. In unserer Gesellschaft wird heutzutage vor allem in die Möglichkeiten heterosexuell, bisexuell oder homosexuell unterschieden.

Die sexuelle Orientierung unterscheidet sich auch von sexueller Identität. Unter sexueller Identität versteht man die Selbstdefinition einer Person. Hier gibt es neben hetero- homo- und bisexuell noch viele weitere Selbstdefinitionen wie pansexuell, queer, asexuell oder hetero-flexibel usw.

Heterosexuell heißt, eine Frau begehrt Männer oder ein Mann begehrt Frauen; homosexuell heißt, eine Frau begehrt Frauen (das wird auch lesbisch genannt), oder ein Mann begehrt Männer (das wird auch schwul genannt). Bisexuell heißt, eine Person begehrt Männer und Frauen, oder einfach Menschen, egal welches Geschlecht sie haben. Weil es mehr als zwei Geschlechter gibt, sagen manche auch, sie sind pansexuell und begehren alle Geschlechter oder sie sind queer, dann lehnen sie es ab, Geschlecht und Sexualität in solche Schubladen wie homo/hetero oder Mann/Frau zu sortieren. Asexuell heißt, eine Person verspürt kein oder kein großes Verlangen nach Sexualität. Hetero-flexibel heißt, dass ein Mensch sich als heterosexuell versteht, aber dennoch unter bestimmten Umständen auch andere Partner*innen oder Begegnungen haben kann. Sexuelle Orientierung und sexuelle Identität unterscheiden sich außerdem von tatsächlich gelebten Praxen, denn Menschen haben teilweise auch Sex, der (vermeintlich) nicht in ihr sonstiges Begehrensmuster oder zu ihrer Identität passt.

Die Aufteilung von Menschen in Kategorien aufgrund des Geschlechts, das sie begehren oder mit dem sie eine Liebesbeziehung eingehen wollen, ist jedoch nicht selbstverständlich und kann Probleme nach sich ziehen. So stellen sich z.B. die folgenden Fragen: Bezieht sich die Einteilung auf das biologische Geschlecht oder auf die Geschlechtsidentität des Gegenübers? Was ist mit Partner*innen von trans* und inter Personen, die nicht in die Standardmodelle von Mann/Frau fallen? Warum ist es so wichtig, welches Geschlecht mein Gegenüber hat und warum sind andere Aspekte vermeintlich weniger wichtig, wie z.B. gemeinsame Interessen, Lebenseinstellungen oder ein bestimmter Fetisch? Wie aussagekräftig sind diese Kategorien wirklich, also begehrt eine heterosexuelle Frau alle Männer oder doch eher nur wenige oder gar nur einen bestimmten Mann? Worauf bezieht sich die sexuelle Orientierung genau, z.B. auf Begehren, auf Verliebtheitsgefühle, auf sexuelle Fantasien, auf tatsächlich gelebte Praxen? Bleiben Anziehung oder gewisse Gefühle ein Leben lang gleich oder ändern sich die Vorlieben auch im Laufe des Lebens? Ist die sexuelle Orientierung im Wesen einer Person verankert oder wird sie auch von gesellschaftlichen Normen beeinflusst, also würden z.B. mehr Menschen auch gleichgeschlechtliche Beziehungen eingehen, wenn sie das von klein auf als gleichwertige Möglichkeit kennengelernt hätten?

Es gibt Menschen ohne Behinderung, die Menschen mit Behinderung besonders attraktiv finden, was manchmal auch als Fetisch bezeichnet wird. Mit Fetisch ist gemeint, dass ein bestimmtes Merkmal als besonders erregend (und ggf. stärker erregend als Geschlechtsteile wie Penis oder Brüste) empfunden wird, so dass es z.B. bei Partner*innensuche und beim Sex stark im Mittelpunkt steht. Als eigenständige sexuelle Orientierung gilt diese Vorliebe in der Regel nicht. Ein Fetisch für eine bestimmte Behinderung wie z.B. einen Armstumpf oder amputierte Körperteile kann für Menschen mit Behinderung ambivalent sein, denn hier wird von anderen vielleicht genau das als interessant empfunden, was oft als Makel gesehen wird, möglicherweise auch von ihnen selbst. Außerdem kann es sein, dass man auf den Fetisch reduziert wird oder sich darauf reduziert fühlt, anstatt als ganzer Mensch, unabhängig von Behinderung, begehrt und geliebt zu werden.

Früher wurden oft nur bestimmte Formen von Heterosexualität (monogame Ehe) als ‚normal‘ und ‚natürlich‘ gesehen und andere Formen und sexuellen Orientierungen als ‚abweichend‘ oder ‚unnatürlich‘ usw. So hat man nach Ursachen für diese vermeintlichen Abweichungen gesucht. Heute geht die Sexualwissenschaft von einem bio-psycho-sozialen Modell aus, d. h., dass alle sexuellen Orientierungen gleichermaßen durch biologische, psychologische und soziale Faktoren im Laufe des Lebens geprägt werden. Außerdem geht man davon aus, dass ein Mensch sich nicht aussuchen kann, welche sexuelle Orientierung er hat und dass man Menschen auch nicht ‚umpolen‘ kann. Jedoch können und dürfen alle Menschen, mit oder ohne Behinderung, selbst bestimmen, welche sexuelle Identität am besten zu ihnen passt, z.B., ob sie sich selbst als heterosexuell, schwul, lesbisch, bisexuell, queer oder etwas anderes bezeichnen und leben wollen.


Literatur

  • Bauer, Robin (2020): Sexualpädagogik der Vielfalt in der Kinder- und Jugendarbeit. In: Meyer, Thomas/Patjens, Rainer (Hrsg.): Studienbuch Kinder- und Jugendarbeit. Lehrbuch. Wiesbaden: Springer VS, S. 565-592.
  • Dekker, Arne (2013): Was heißt: Sexualität ist „bio-psycho-sozial“? In: Zeitschrift für Sexualforschung, 26. Jg., H. 1, S. 34-43.
  • Diamond, Lisa (2016): Theories of Sexual Orientation. In: Goldberg, Abbie E. (Hrsg.): The SAGE Encyclopedia of LGBTQ Studies. Thousand Oaks: Sage, S. 1168-1171.
  • Schmidt, Gunter (1998): Gibt es Heterosexualität? In: Ders.: Sexuelle Verhältnisse. Über das Verschwinden der Sexualmoral. Reinbek: Rowohlt, S. 130-145.
  • Timmermanns, Stefan/Böhm, Maika (Hrsg.) (2020): Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Interdisziplinäre Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.