Selbstbestimmung

Wenn man selbstbestimmt lebt, dann entscheidet man selbst, wie man leben will. Für Menschen mit Beeinträchtigungen ist das oft schwierig, weil viele andere Menschen für einen Entscheidungen treffen. Im Sinne einer inklusiven Gesellschaft möchten aber auch Menschen mit Beeinträchtigungen über sich selbst entscheiden. Das heißt dann nicht, dass sie alleine entscheiden. Das würde bedeuten, unabhängig von anderen zu entscheiden. Bei Selbstbestimmung sagen sie aber, wie sie leben wollen und andere Menschen helfen ihnen dann dabei. Menschen mit Beeinträchtigungen haben mit der UN-Behindertenrechtskonvention UN-BRK und dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. In Deutschland gibt es verschiedene Wege, wie man die Selbstbestimmung von Menschen mit Beeinträchtigungen verbessern will. Eines davon ist das Persönliche Budget. Mit dem Persönlichen Budget kann man die Hilfe selbst bezahlen, die man braucht. Und man kann selbst aussuchen, von wem man die Hilfe bekommen möchte.

Der Begriff der Selbstbestimmung wird je nach Kontext unterschiedlich definiert. In der Philosophie wird beispielsweise von „Freiheit als rationaler Selbstbestimmung“ (Berlin 2006, S. 226) gesprochen und in der Psychologie wird in der Selbstbestimmungstheorie zwischen selbstbestimmten und fremdbestimmten Handlungen unterschieden. Dieser Theorie zufolge entsteht selbstbestimmtes Handeln aufgrund einer intrinsischen Motivation, also einem eigenständigen Interesse an einer Tätigkeit. Außerdem zeigen psychologische Studien, dass die Erfahrung selbstbestimmten Handelns zu einem höheren Wohlbefinden, einem stärkeren (Selbst-)Vertrauen und einer besseren Anpassung in unterschiedlichen Lebensbereichen beiträgt.

Aus einer inklusiven Perspektive meint Selbstbestimmung die Möglichkeit, das eigene Leben nach selbstgesetzten Präferenzen gestalten zu können. Wichtig ist dabei der Unterschied zur ‚Unabhängigkeit‘: So geht es – beispielsweise bei Menschen mit Behinderung – keineswegs darum, unabhängig von anderen Personen und Institutionen zu leben. Vielmehr zielt Inklusion ja gerade darauf ab, es Menschen mit Unterstützungsbedarf durch die Schaffung entsprechender gesellschaftlicher Strukturen zu ermöglichen, ihren Alltag nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten zu können. Unterstützung und ein wechselseitiges Aufeinander-Angewiesen-Sein sind demnach nicht das Gegenteil von Selbstbestimmung, sondern stellen vielmehr in vielen Fällen deren Voraussetzung dar.

Ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderung wird bereits seit den 1980er Jahren von der ‚Selbstbestimmt-Leben-Bewegung‘ gefordert, die aus der Behinderten– oder auch Krüppelbewegung hervorging und Perspektiven der US-Amerikanischen Independent-Living-Bewegung aufgriff. Durch diese Selbsthilfebewegungen wurde ein Diskurs zu den Selbstbestimmungsmöglichkeiten und -rechten von Menschen mit Behinderung angestoßen, der bis heute anhält. In diesem Zusammenhang hat die Forderung nach Selbstbestimmung auch Eingang in die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) erhalten. Interessant ist dabei, dass in der offiziellen deutschen Übersetzung der Begriff der ‚Unabhängigkeit‘ benutzt wurde, um ‚independence‘ wörtlich zu übersetzen, während in der vom NETZWERK ARTIKEL 3 e.V. veröffentlichten sogenannten ‚Schattenübersetzung‘ der UN-BRK ‚independence‘ mit ‚Selbstbestimmung‘ übersetzt wurde. Die oberen Überlegungen zu den Unterschieden zwischen beiden Begriffen legen es nahe, dass letztere Übersetzung aus einer inklusiven Perspektive angemessener scheint, um die Forderungen von Menschen mit Behinderung darzustellen.

Unabhängig hiervon wurde der Selbstbestimmungsanspruch von Menschen mit Behinderung auch im deutschen Recht im SGB IX und dessen Überarbeitung durch das BTHG verankert. So zielen nach § 1 SGB IX die Leistungen dieses Gesetzbuches darauf ab, die „Selbstbestimmung und […] volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“ von Menschen mit Behinderung zu fördern. Eine ähnliche Formulierung mit Bezug auf Pflegebedürftige findet sich in § 2 Abs. 1 SGB IX, nach dem das Ziel des Gesetzes darin liegt, den anspruchsberechtigten Menschen dabei zu helfen, ein „möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben“ zu führen. Auch hier wird der wechselseitige Zusammenhang von Selbstbestimmung und Inklusion sichtbar.

Beispielhafte, auf eine erhöhte Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung zielende Maßnahmen sind die ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (§ 32 SGB IX) sowie das Persönliche Budget (§29 SGB IX). Letzteres soll es Menschen ermöglichen, selbstständig Teilhabeleistungen auszuwählen und dabei zwischen unterschiedlichen Leistungsanbietern entscheiden zu können. Über diese Maßnahmen hinaus bedarf es vielfältiger und sowohl an die individuelle Lebenssituation (z.B. Stärkung von Ressourcen) angepasste als auch auf das Gemeinwesen (z.B. Abbau von Barrieren, Entwicklung von inklusiven Angeboten, etc.) eingehende Konzepte, um eine selbstbestimmte Lebensführung aller Gesellschaftsmitglieder dauerhaft zu ermöglichen.


Literatur

  • Arnarde, Sigrid (o.J.): Selbstbestimmung. Fachstelle Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung (EUTB®).
    Online unter www.teilhabeberatung.de/…, Stand: 18.10.2022
  • Berlin, Isaiah (2006): Freiheit. Vier Versuche. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch.
  • Schneider, Marianne (2022): Selbstbestimmung/Selbstbestimmungstheorie. In: Wirtz, Markus Antonius (Hrsg.): Dorsch Lexikon der Psychologie.
    Online unter dorsch.hogrefe.com/…, Stand: 18.10.2022
  • Wansing, Gudrun/Windisch, Matthias (Hrsg.) (2017): Selbstbestimmte Lebensführung und Teilhabe. Behinderung und Unterstützung im Gemeinwesen. Stuttgart: Kohlhammer.