Behindertenbewegung

Eine Behindertenbewegung ist eine Gruppe von Menschen, die für die Rechte von Menschen mit Behinderungen kämpfen. Behindertenbewegungen gibt es in vielen Ländern, auch in Deutschland. Während der NS-Zeit wurden behinderte Menschen weggesperrt und viele wurden auch getötet. Auch nach der NS-Zeit hatten Menschen mit Behinderung nur wenig Rechte und sie wurden oft in Psychiatrien oder Behinderteneinrichtungen untergebracht. Dort konnten sie nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Seitdem kämpfen Behindertenbewegungen dafür, dass Menschen mit Behinderung die gleichen Rechte wie Menschen ohne Behinderung bekommen. Sie kämpfen auch für mehr Teilhabe und Selbstbestimmung. Und sie haben schon viel verändert. Seit 1994 ist es z.B. Gesetz, dass man nicht mehr wegen seiner Behinderung diskriminiert werden darf. Es dauert aber noch, bis Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben wie Menschen ohne Behinderung.

Der Begriff Behindertenbewegung bezeichnet den überwiegend von Betroffenen organisierten politischen und gesellschaftlichen Kampf um die rechtliche Gleichstellung und Inklusion von Menschen mit und ohne Behinderung. Behindertenbewegungen gibt es in unterschiedlicher Form über die ganze Welt verteilt, wie etwa das US-Amerikanische ‚Disability Movement‘. Im deutschsprachigen Raum entstanden insbesondere nach dem zweiten Weltkrieg erste Vorläufer und Organisationen, aus denen später die (zunächst west‑)deutsche Behindertenbewegung hervorhing.

Der gesellschaftliche Hintergrund dieser Zeit war die Aussonderung und Vernichtung von Menschen mit Behinderung in der NS-Zeit sowie die dahinterliegenden abwertenden Denkmuster, die auch nach 1945 weiterhin in der Gesellschaft verbreitet waren. Behinderte Menschen verfügten in der Regel über wenig bis keine Möglichkeiten zur Selbstbestimmung und wurden oftmals in großen Einrichtungen (z.B.  Psychiatrien und Heime) untergebracht, in denen ihr Alltag weitgehend fremdbestimmt wurde und in den meisten Fälle eine Entrechtlichung sowie ein vollständiger Ausschluss aus der Gesellschaft stattfand. Zwar gründeten Eltern behinderter Kinder in den 1950er Jahren vereinzelt Vereinigungen, die auf die bessere Versorgung der Kinder und damit auf einen Auf- und Ausbau von Sondereinrichtungen hinarbeiteten. Behinderung wurde dabei jedoch stets als ‚Sonderfall‘ sowie ‚Defekt‘ betrachtet.

Seit den 1960er Jahren bildeten sich dann auf dem ehemaligen Gebiet der BRD drei unterschiedliche Gruppierungen, deren Impulse in Richtung einer Behindertenbewegung deuteten:

  1. Die sogenannten ‚Clubs Behinderte und ihrer Freunde‘ (CeBeefs), die Menschen mit und ohne Behinderung eine altersgerechte Freizeitgestaltung ermöglichen sollten und sich auch lokalpolitisch für den Abbau bestehender Barrieren engagierten.
  2. Die in Frankfurt am Main durchgeführten Volkshochschulkurse ‚Bewältigung der Umwelt‘, die von dem rollstuhlnutzenden Sozialarbeiter Gusti Steiner und dem nichtbehinderten Publizisten Ernst Klee gemeinsam entwickelt und angeboten wurden. Die Kurse wurden u.a. durch öffentlichkeitswirksame Aktionen überregional bekannt und zielten auf eine Sensibilisierung sowie auf die Emanzipation von Menschen mit Behinderung.
  3. Die sich selbst so bezeichnenden ‚Krüppelgruppen‘, in denen die Teilnahme nicht-behinderter Menschen untersagt wurde und die sich politisch gegen die Unterdrückung von Menschen mit Behinderung einsetzten.

Trotz ihrer grundsätzlich auf Teilhabe abzielenden Ausrichtung entwickelten sich auch innerhalb dieser Gruppierungen Hierarchien. So wurde etwa Frauen oder Menschen mit „geistiger Behinderung“ oftmals eine Randposition zugewiesen und ihre spezifischen Bedürfnisse wurden vernachlässigt.

Nach dem sogenannten ‚Frankfurter Behindertenurteil‘ vom 25.02.1980 (die Anwesenheit von Menschen mit Behinderung in einem Urlaubshotel wurde als Reisemangel bewertet und hatte die Minderung des Reisepreises der Klägerin zufolge) schlossen sich die unterschiedlichen Gruppierungen zu gemeinsamen Aktionen zusammen und deren Aktivität erreichte im gemeinsamen Protest gegen das von der UNO organisierte ‚Jahr der Behinderten‘ ihren Höhepunkt. Unter anderem wurden in diesem Zusammenhang mehrere offizielle Veranstaltungen öffentlichkeitswirksam zur Artikulation der eigenen Themen genutzt (z.B. eine Rede des damaligen Bundespräsidenten) und es wurde zum Abschluss des Jahres ein ‚Krüppeltribunal‘ durchführt, in dem Verletzungen der Menschenrechte auf Selbstbestimmung und Teilhabe angeklagt wurden.

In den folgenden Jahren nahm der radikale Protest der Behindertenbewegung ab und sie institutionalisierte sich teilweise, z.B. in den Zentren für Selbstbestimmtes Leben oder im Deutschen Behindertenrat. In den Vordergrund rückten etwa Fragen nach einer barrierefreien Alltagsbewältigung (z.B. Mobilität) sowie eine Auseinandersetzung mit ethischen Fragestellungen, z.B. im Kontext der Infragestellung des Lebensrechts von Menschen mit Behinderung. Parallel gab es auf dem ehemaligen Gebiet der DDR wenig Möglichkeiten zur politischen Selbstorganisation behinderter Menschen. Trotzdem entwickelten sich informelle Strukturen, die auf den Abbau von Barrieren zielten und aus denen nach der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 der ‚Allgemeine Behindertenverband in Deutschland‘ hervorging.

Zudem wurde aus der Behindertenbewegung heraus zunehmend Kritik an der akademischen Behinderten- und Sonderpädagogik und deren Perspektive auf Behinderung geübt, da diese Disziplinen Fragen der normalisierenden Anpassung im Vordergrund stellen und bestehende strukturelle Machtverhältnisse ausblenden würden. Nach ersten Veröffentlichungen in eigenen Zeitschriften (z.B. Luftpumpe, Krüppelbewegung) entstand schließlich im Anschluss an die Ausstellung „Der (im-)perfekte Mensch“ im Jahr 2002 die deutschsprachigen Disability Studies und die Behindertenbewegung fand zunehmend Eingang in akademische Diskurse.

Inzwischen haben sich diese Disability Studies als eigenständiges – wenn auch noch junges – Forschungsfeld etabliert und die Kämpfe und Bemühungen der Behindertenbewegung zeigten auch in anderen Feldern Erfolge, wie etwa in der Institutionalisierung ambulanter Beratungsstellen sowie der genannten Zentren für selbstbestimmtes Leben oder in der Verankerung des Antidiskriminierungsverbots im Grundgesetz im Jahr 1994 (Art. 3, Abs. 3, Satz 2 GG). Auch auf internationaler Ebene hatte die Bewegung Erfolg, was insbesondere darin deutlich wurde, dass sich Aktivist*innen aus der deutschen Behindertenbewegung an der Ausarbeitung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) beteiligten. Und auch heute noch steht der aktive Einsatz für die Rechte und Teilhabe von Menschen mit Behinderung im Fokus der Bewegung, u.a. in der kritischen Begleitung der Implementierung der UN-BRK.


Literatur

  • Köbsell, Swantje (2022): Entstehung und Varianten der deutschsprachigen Disability Studies. In: Waldschmidt, Anne (Hrsg.): Handbuch Disability Studies. Wiesbaden: Springer VS, S. 55-71.
  • Köbsell, Swantje (2019): 50 behindertenbewegte Jahre in Deutschland. In: APuZ, 69. Jg., H. 6 7, S. 24-30.
    Online unter www.bpb.de/…, Stand: 17.08.2022
  • Lingelbach, Gabriele (2020): Behindertenbewegungen ab den 1960er Jahren. In: Hartwig, Susanne (Hrsg.): Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Berlin: J.B. Metzler, S. 161-166.