Habitus ist ein Begriff, den der Soziologe Pierre Bourdieu entwickelt hat. Ein Habitus ist ein erlerntes Muster. Das Muster erlernt man von seiner Familie und von dem Umfeld, indem man aufwächst. Zum Beispiel haben Menschen mit dem gleichen Habitus einen ähnlichen Geschmack oder eine ähnliche Art zu sprechen. Oder sie haben eine ähnliche Art zu denken und zu handeln. Welchen Habitus man erlernt, hängt auch davon ab, wo man lebt und wie man lebt. Menschen, die wenig Geld oder wenig Chancen auf Bildung haben, haben meist einen anderen Habitus wie Menschen, die viel Bildung oder Geld haben. Manche Habitus-Muster sind in der Gesellschaft weniger anerkannt. Das kann dann dazu führen, dass Menschen mit einem bestimmten Habitus diskriminiert oder schlechter behandelt werden. Durch Inklusion sollen Menschen verstehen, dass alle Habitus-Formen gleich viel wert sind, obwohl sie unterschiedlich sind.
Das Habituskonzept wurde von dem Soziologien Pierre Bourdieu entwickelt. Es stellt in den Sozialwissenschaften ein wichtiges theoretisches Modell dar, um den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und den unterschiedlichen Denk- und Handlungsweisen einzelner Personen und sozialer Milieus zu erklären. In einem allgemeinen Sinne beschreibt der Habitus einer Person, wie diese Person die Welt um sich herum wahrnimmt, wie sie ihre Wahrnehmungen verarbeitet, welche Handlungen sie damit verbindet und wie sie sich selbst verhält. Es geht also um Schemata bzw. Muster, mit deren Hilfe Eindrücke und Wahrnehmungen verarbeitet werden. Der Habitus umfasst sowohl Geschmacksurteile (Was gefällt mir / Was finde ich schön?) als auch Wertmaßstäbe (Wie beurteile ich einen Sachverhalt? / Was halte ich für moralisch richtig oder falsch?) sowie Verhaltensschemata (Was soll ich tun / Wie habe ich mich in dieser Situation zu verhalten?).
Allerdings ist der Habitus keine allgemeine oder angeborene Fähigkeit, über die alle Menschen gleichermaßen verfügen. Stattdessen entsteht der Habitus einer Person in ihrer und durch ihre Sozialisation an einem bestimmten ‚Ort‘ bzw. sozialen Position in der Gesellschaft. Je nachdem, in welcher materiellen Lage ein Kind aufwächst, welche Bezugspersonen es im Aufwachsen kennenlernt und welche Denk- und Verhaltensweisen ihm vermittelt werden, entwickelt es eine bestimmte Art und Weise des Wahrnehmens, Denkens und Handelns. Habitus sind deshalb immer klassen- oder milieuspezifisch. Sie beschreiben den Wirklichkeitszugang einzelner sozialer Milieus und Gruppen mit ähnlichen ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen. Deshalb sind der Habitus und die ihm zugehörigen Praktiken auch immer nur relational zu bestimmen, das heißt im Vergleich und in der Differenz zu anderen Habitusformen in der Gesellschaft. Beispiele hierfür sind eine Gegenüberstellung der Ernährungspraktiken von akademisch geprägten Milieus und Arbeiter*innen-Milieus oder eine Analyse der präferierten Sportarten bei finanziell bessergestellten Gruppen im Vergleich zu prekären Milieus.
Der Habitus lässt sich also zusammengefasst aufgrund seiner Charakteristika als eine gleichzeitig ‚strukturierte‘ und ‚strukturierende‘ Struktur beschreiben:
- Strukturiert ist der Habitus, weil er aus den klassen- und milieuspezifischen Sozialisationsprozessen einer Person entsteht, sich also aus gesellschaftlichen Strukturen und Ungleichheitsverhältnissen ableitet.
- Strukturierend ist der Habitus, weil er alltags- sowie lebensrelevante Entscheidungen und Handlungen (z.B. Freizeitpräferenzen, Vorlieben beim Essen, Kleidungsstile, Berufswünsche, …) maßgeblich beeinflusst.
Aufgrund dieses doppelten Charakters trägt der Habitus zur Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen bei. So werden beispielsweise Bildungsungleichheiten dadurch aufrechterhalten, das bildungsaffine Milieus ihren Habitus und ihr kulturelles Kapital (z.B. Instrumente zu spielen, bestimmte Sprech- und Formulierungsweisen) an ihre Kinder weitergeben. Auch Lehrer*innen und andere pädagogische Fachkräfte entstammen oftmals den eher mittelschichtsorientierten Milieus und entwickeln in ihrer Sozialisation pädagogische Normalitätsvorstellungen, die sie auf Kinder und Jugendliche projizieren. Schüler*innen, die aufgrund ihres Habitus diesen Normalitätsvorstellungen und bildungsbezogenen Erwartungen (Kredentialismus) zunächst einmal nicht entsprechen, stehen dann vor der Gefahr, als ‚bildungsfern‘ markiert zu werden, was bis zu Diagnosen der ‚Erziehungsunfähigkeit‘ der jeweiligen Eltern führen kann.
Hier zeigt sich die Bedeutung des Habitus für die Gestaltung inklusiver Prozesse. Die Art und Weise, wie Menschen sich begegnen, wie sie sich gegenseitig wahrnehmen und welche Strukturen des Lernens und der gegenseitigen Unterstützung sie für angemessen halten, entscheidet darüber, ob im Sinne der Inklusion vollständige gesellschaftliche Teilhabe und Akzeptanz von Menschen und deren Individualität verwirklicht werden kann. Im Index für Inklusion wird deshalb auf die Relevanz „inklusiver Kulturen“ hingewiesen, also darauf, dass innerhalb pädagogischer Teams eine Kultur der Anerkennung und des gegenseitigen Respekts etabliert wird. Das Habituskonzept lässt sich in diesem Sinne als Herausforderung interpretieren, in der Etablierung von inklusiven Settings und Kulturen die unterschiedlichen grundlegenden Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsweisen der beteiligten Personen miteinander zu vermitteln.