Kredentialismus/Credentialism

Kredentialismus ist ein schweres Wort. Das englische Wort heißt credentialism. In einer Gesellschaft haben nicht alle Menschen die gleichen Chancen auf Teilhabe. Das hat unterschiedliche Gründe. Eine Gesellschaft gibt sich selbst die Regeln, welche Menschen mehr Teilhabe haben und welche weniger. Mit Kredentialismus ist gemeint, dass eine Gesellschaft die Regel hat, dass solche Menschen viel Teilhabe bekommen sollen, die viel Bildung haben. Zum Beispiel haben sie viele Bildungsabschlüsse. Allerdings haben in unserer Gesellschaft nicht alle Menschen die gleichen Chancen auf Bildung (Bildungsungleichheit). Und auch nicht jeder Mensch will viele Bildungstitel erwerben. Deshalb ist es wichtig, dass allen Menschen in einer Gesellschaft Teilhabe ermöglicht wird, unabhängig von ihren Bildungsabschlüssen.

Der Begriff Kredentialismus (engl. „Credentialism“) wurde von den US-amerikanischen Soziologen S.M. Miller und Randall Collins entwickelt und beschreibt eine Sichtweise, die die erworbenen Bildungsabschlüsse (‚credentials‘) einer Person als das zentrale Kriterium zur Verteilung gesellschaftlicher Teilhabechancen und dabei insbesondere beruflicher Positionen betrachtet. Der Maßstab zur Beurteilung von Handlungen und Personen ist dann deren ‚Klugheit‘, die sich wiederum in den entsprechenden Bildungsabschlüssen widerspiegelt.

Eine kredentialistische Perspektive ist eng verbunden mit zwei weiteren Konzepten: der Vorstellung einer meritokratischen Gesellschaftsform und der Forderung nach Chancengleichheit für alle Mitglieder dieser Gesellschaft:

  1. Die Gesellschaftsform der Meritokratie bedeutet, dass die Verteilung von Gütern, Positionen und Teilhabemöglichkeiten nach dem Leistungsprinzip erfolgt. Wer mehr leistet als andere, hat in einer Meritokratie auch einen legitimen Anspruch auf höhere Ämter und mehr (monetäre) Ressourcen. Diese Logik ist grundsätzlich die gleiche wie beim Kredentialismus, nur dass beim Letzteren die Bildungsabschlüsse an die Stelle der ‚Meriten‘ (Leistungen) treten.
  2. Um diese Orientierung an Leistung in meritokratischen Gesellschaftsformen zu rechtfertigen, sollen alle Gesellschaftsmitglieder die gleichen Chancen haben, sich durch Leistung eine entsprechende Position zu verdienen. Merkmale der sozialen Herkunft (z.B. die ökonomische Lage der Eltern, etc.) und weitere sogenannte ‚leistungsfremde‘ Merkmale einer Person (z.B. das Geschlecht) dürfen jedoch für den Bildungserfolg und den Zugang zu beruflichen und anderen gesellschaftlichen Positionen keine Rolle spielen. Diese Forderung ist auch für eine kredentialistische Sichtweise zentral: Denn nur wenn angenommen wird, dass Bildungsabschlüsse ausschließlich auf der eigenen Leistung beruhen, können diese ein legitimes Kriterium zur Verteilung gesellschaftlicher Positionen darstellen.

Eine kredentialistische Perspektive stellt einerseits einen Fortschritt gegenüber Gesellschaftsformen dar, in denen der Erwerb von Ressourcen und Positionen stark an die soziale Herkunft der Personen geknüpft ist. Andererseits hat auch aktuell die soziale Herkunft einen großen Einfluss auf den Bildungserfolg einer Person (Bildungsungleichheit). Eine kredentialistische Sichtweise führt unter solchen Bedingungen dazu, dass Menschen mit ‚niedrigeren‘ Bildungsabschlüssen noch zusätzlich stigmatisiert werden:

„Die Idee, dass Bildung allgemein zur Lösung von sozialen Problemen beiträgt, dürfte das Risiko erhöhen, dass Gruppen mit niedrigem sozioökonomischem Status besonders negativ bewertet werden […] Wenn Bildungsergebnisse als weitgehend verdient angesehen werden, dann gilt das auch für deren Folgen“ (Kuppens et al 2018, S. 441, 445; vgl. Sandel 2020, S. 155).

Die zunehmende Relevanz und die gleichzeitig zunehmende Verbreitung von Bildungstiteln in kredentialistischen Gesellschaften kann demnach dazu führen, dass diejenigen Personen ohne entsprechende Bildungsabschlüsse von der Teilhabe an gesellschaftlichen Zusammenhängen ausgeschlossen werden. Dies ist aus einer inklusiven Perspektive insbesondere dann problematisch, wenn z.B. Menschen mit Behinderung der gleichberechtigte Zugang zu Bildungsabschlüssen verwehrt ist.

Daher ist es einerseits zentral, in pädagogischen Angeboten  für Kinder und Jugendliche allen Teilnehmenden einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung zu gewähren. Mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) wird dies in Bezug auf Menschen mit Behinderung auch auf einer rechtlichen Ebene eingefordert. Andererseits gilt es aber auch, gesellschaftliche Räume zur Partizipation und Teilhabe zu schaffen, in denen jede Stimme – unabhängig von sozialer Herkunft und von erworbenen Bildungstiteln – gleichberechtigt gehört wird. Dies ist insbesondere notwendig, um der Stigmatisierung von Menschen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen entgegenzuwirken.


Literatur

  • Collins, Randall (2019): The Credential Society. An Historical Sociology of Education and Stratification. New York u. a.: Columbia University Press.
  • El-Mafaalani, Aladin (2015): Bildungsaufstieg – (K)eine Frage von Leistung allein?
    Online unter www.bpb.de/…, Stand: 16.08.2022
  • Sandel, Michael (2020): Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt. Frankfurt am Main: Fischer.