Soziale Milieus

Soziale Milieus sind Gruppen von Menschen, die ähnliche Vorstellungen, Werte und Lebensstile haben. Das kommt oft daher, dass sie ähnlich aufwachsen. Z.B. in einem bestimmten Stadtviertel oder auf dem Land. Oder sie wachsen in Gruppen von Menschen auf, die alle die Universität besucht haben, oder alle eine Ausbildung haben. Oder sie wachsen in einem Umfeld auf, wo es viel Armut und Arbeitslosigkeit gibt. Menschen in einem sozialen Milieu sehen die Welt oft auf ähnliche Weise. Sie können auch einen ähnlichen Musikstil haben oder sich ähnlich kleiden. Das nennt man dann: Sie haben einen ähnlichen Habitus. Das Sinus-Institut hat ein Modell mit sozialen Milieus entwickelt. Demnach gibt es zehn unterschiedliche Milieus in Deutschland. Für Kinder und Jugendliche gibt es sieben unterschiedliche Milieus in Deutschland.

Soziale Milieus sind nach Stefan Hradil (2006, S. 49) Gruppen von Menschen, die „jeweils ähnliche Werthaltungen, Prinzipien der Lebensgestaltung, Beziehungen zu Mitmenschen und Mentalitäten aufweisen.“ Entscheidend ist dabei weniger die direkte Interaktion der Angehörigen eines Milieus, sondern vielmehr, dass diese ihre jeweilige Umwelt in einer ähnlichen Weise interpretieren und gestalten. Milieus entstehen daher, wenn Menschen in ähnlichen Lebensbedingungen (z.B. auf dem Land) aufwachsen und sozialisiert werden. In diesen Sozialisationsprozessen entstehen dann milieutypische Habitusformen, d.h. Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, anhand derer sich ein Milieu charakterisieren lässt. Milieus können sowohl in kleineren lokalen Zusammenhängen (z.B. Stadtviertelmilieus) als auch auf übergreifender beruflicher (z.B. Journalist*innenmilieu) oder gesamtgesellschaftlicher Ebene (z.B. SINUS-Milieus) entstehen.

Im Unterschied zu Schicht- und Klassenmodellen, die ausschließlich die ‚objektiven‘ Faktoren einer Gesellschaftsstruktur (Einkommen, formelle Bildung, Beruf) betrachten, beziehen Milieuanalysen auch subjektive Faktoren mit ein, wie etwa unterschiedliche Mentalitäten, Lebensstile und Werthaltungen. Das bekannteste Milieu-Modell in Deutschland sind die Sinus-Milieus® vom gleichnamigen Sinus-Institut. Diese wurden für erstmals Ende der 1970er Jahren basierend auf qualitativen (z.B. narrative Interviews, Videographien) und später auch quantitativen (z.B. statistische Verallgemeinerung) Analysen gebildet und seitdem regelmäßig überarbeitet. Die Darstellung erfolgt i.d.R. in sogenannten ‚Kartoffelgrafiken‘, die in einem Koordinatensystem dargestellt sind, das aus zwei Achsen besteht: Einer X-Achse, die grundsätzliche Wertorientierungen umfasst (z.B. Tradition, Individualisierung) und eine Y-Achse, die überwiegend auf die Soziale Lage rekurriert (Ober- Mittel- oder Unterschicht). Neben einem Modell für die Gesamtgesellschaft, das in seiner gegenwärtigen Form zehn Milieus umfasst (Stand 2021; Barth 2021), werden vom SINUS-Institut regelmäßig auch die Lebenswelten von Migrant*innen oder junger Menschen in Deutschland untersucht. Eine entsprechende Studie aus dem Jahr 2020 ergab insgesamt sieben unterschiedliche jugendliche Lebenswelten für die 14- bis 17-Jährigen in Deutschland (Calmbach et al. 2020, S. 47):

  • Traditionell-bürgerliche: In dieser Lebenswelt sind Jugendliche verortet, die tendenziell bescheiden sind sowie einen hohen Familien- und Heimatbezug aufweisen
  • Adaptiv-pragmatische: Hier finden sich anpassungsbereite Jugendliche, die Familien- und Leistungsorientierung verbinden.
  • Prekäre: Die Jugendlichen in dieser Lebenswelt haben tendenziell schwierige Startvoraussetzungen, sind oftmals von Armut bedroht und müssen sich um Teilhabe und Erfolg in einem höheren Maße bemühen. Daher bilden sie oftmals eine ‚Durchbeißermentalität‘ aus.
  • Konsum-Materialisten: Diese Jugendlichen haben eine starke Freizeit- und Familienorientierung sowie ausgeprägte Konsumwünsche.
  • Experimentalisten: In dieser Lebenswelt sind Jugendliche verortet, die einen starken Gegenwartsbezug (Leben im ‚Hier und Jetzt‘) aufweisen und die sich spaß- und szeneorientiert positionieren. Dies geht tendenziell mit nonkonformistischen Praktiken einher.
  • Postmaterielle: Die postmateriellen Jugendlichen zeichnen sich durch ihren hohen formellen Bildungsgrad und ihre Weltgewandtheit aus. Darüber hinaus haben sie ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden.
  • Expeditive: Die Jugendlichen in dieser Lebenswelt sind stark erfolgs- und lifestyleorientiert, entwickeln frühzeitig Netzwerke und sind auf der Suche nach unkonventionellen (Grenz-)Erfahrungen.

In der Kinder- und Jugendarbeit (KJA) können milieuorientierte Analysen der Lebenswelten junger Menschen insbesondere in der Konzeptentwicklung sowie in der Gestaltung neuer Angebote von Nutzen sein. In der Kombination lokaler sozialräumlicher Analysen mit übergeordneten Lebensweltmodellen kann überprüft werden, welche Kinder und Jugendliche durch die Einrichtungen bisher angesprochen werden und welche Milieus in Zukunft stärker berücksichtigt werden sollten.

Sprechen die jeweiligen Angebote dagegen nur ein Milieu (z.B. das Milieu der „Traditionell-Bürgerlichen“) an, werden dadurch die Vorlieben, Geschmäcker und Lebensstile der anderen Milieus indirekt vernachlässigt. Dies betrifft auch Fragen der Inklusion: So ist einerseits davon auszugehen, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderung in allen Milieus anzutreffen sind. Andererseits ist dieser (in sich sehr heterogenen) Gruppe immer noch überdurchschnittlich oft der Zugang zu Abitur und Studium verwehrt, weshalb Kinder und Jugendliche mit Behinderung vermutlich in Milieus mit eher mittlerer und niedriger formaler Bildung etwas überrepräsentiert sein werden, z.B. bei den „Prekären“ und den „Konsum-Materialisten“. Richten sich nun Angebote der KJA beispielsweise stärker an „Expeditive“ oder „Postmaterielle“, dann werden dadurch junge Menschen mit Behinderung über ihre Milieuzugehörigkeit indirekt benachteiligt. Allerdings stellen diese Ausführungen zur Inklusion lediglich ungesicherte Überlegungen dar, da das Thema ‚Behinderung‘ in der letzten Sinus-Jugendstudie nicht näher betrachtet wurde.

Zudem wird im wissenschaftlichen Diskurs auch Kritik an den Sinus-Milieus formuliert, etwa an der fehlenden Transparenz zu den quantitativen Milieuindikatoren sowie dem Algorithmus, nach dem die Zugehörigkeit zu einem Milieu bestimmt wird (Sachweh 2021). Darüber hinaus wird generell an Milieu- und Lebensstilanalysen kritisiert, dass sie tendenziell die Bedeutung gesellschaftlich ungleicher Ressourcen (z.B. Armut) sowie damit einhergehender Macht- und Herrschaftsunterschiede unterschätzen (Reckwitz 2019). So erfolgt beispielsweise auch die quantitative Modellierung der Sinus-Milieus ohne expliziten Bezug zu einkommens- und bildungsbezogenen Variablen (Barth 2021).

Zusätzlich zu diesen Kritiken ist in der Verwendung von Milieumodellen stets zu reflektieren, dass diese Modelle soziale Wirklichkeit in einer vereinfachten Weise abbilden, in der Unterschiede zwischen den Milieus tendenziell überbetont und Unterschiede innerhalb eines Milieus tendenziell unterbetont werden. Daher können Milieustudien zwar den Blick für unterschiedliche Lebens- sowie Habitusformen schärfen, sie ersetzen jedoch nicht den in der pädagogischen Arbeit elementaren Austausch mit Kindern und Jugendlichen über deren im jeweiligen Kontext relevante Interessen, Themen und Bedarfe.


Literatur

  • Barth, Bertram (2021): Die Sinus-Milieus in der Gesellschaftswissenschaft. In: Leviathan, 49. Jg., H. 4, S. 470-479.
  • Calmbach, Marc u.a. (2020): Wie ticken Jugendliche? 2020. Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
  • Hradil, Stefan (2006): Soziale Milieus – eine praxisorientierte Forschungsperspektive. In: APuZ, H. 44-45, S. 3-10.
  • Mau, Steffen/Verwiebe, Roland (2020): Soziale Ungleichheit und Sozialstruktur. In: Joas, Hans/Mau, Steffen (Hrsg.): Lehrbuch Soziologie. Frankfurt am Main: Campus, 4. Auflage, S. 347-377.
  • Reckwitz, Andreas (2019): Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Berlin: Suhrkamp.
  • Sachweh, Patrick (2021): Klassen und Klassenkonflikte in der postindustriellen Gesellschaft. In: Leviathan, 49. Jg., H. 2, S. 181-188.
  • Uhlmann, Christine/Thomas, Peter Martin (2021): Jugenden in unterschiedlichen Lebenswelten und sozialen Milieus. In: Deinet, Ulrich u.a. (Hrsg.): Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit. Wiesbaden: Springer VS, 5. Auflage, S. 461-475.
  • Vester, Michael (2012): Kurze Beschreibung der sozialen Milieus.
    Online unter www.rosalux.de/…, Stand: 07.06.2022