Demisexuell

Demisexuelle Menschen entwickeln zuerst Gefühle für andere Menschen, bevor sie das Bedürfnis nach einer sexuellen Verbindung haben. Z.B. sind sie erst miteinander befreundet oder sie haben auf eine andere Art und Weise Nähe zueinander. Für demisexuelle Menschen sind deswegen rein sexuelle Kontakte – ohne, dass man sich kennt – nicht geeignet. Demisexualität war früher die einzige anerkannte Form, in der Frauen ihre sexuellen Bedürfnisse ausleben sollten. Das hat sich zwar etwas geändert, aber immer noch werden Frauen abgewertet, wenn sie ohne Liebesgefühle oder ohne Beziehungsabsicht mit anderen Menschen Sex haben. Auch Menschen mit Behinderung wird oft unterstellt, dass sie entweder asexuell oder demisexuell sein sollen. Menschen mit Behinderungen können aber wie alle anderen auch selbstbestimmt allosexuell, demisexuell oder asexuell sein.

Demisexuell ist einerseits eine Selbstbezeichnung. Andererseits hat Jodi McAlister ein bestimmtes System von Normen kritisch als „Zwangsdemisexualität“ (compulsory demisexuality) bezeichnet.

Demisexuell ist ein Begriff aus dem Umfeld der asexuellen Community, der von Menschen als Selbstbezeichnung verwendet wird, die erst eine sexuelle Anziehung für eine Person erfahren, nachdem sie bereits eine emotionale Verbindung (wie Freundschaft) mit dieser Person entwickelt haben. Demisexuelle Personen können jeglicher sexueller Orientierung sein (wie z.B. lesbisch, bisexuell oder heterosexuell). Häufig werden demisexuell begehrende Personen dem Spektrum der Asexualität zugerechnet, da manche demisexuellen Individuen nach Selbstauskunft relativ wenig sexuelles Begehren empfinden. Dies ist insofern strittig, als die Definition „nur mit Personen, denen man sich bereits emotional nahe fühlt“ nicht unbedingt heißen muss, dass dies selten vorkommt, sondern nur die Reihenfolge „erst Nähe, dann Begehren“ festlegt. Wie viele andere Selbstbeschreibungen wird der Begriff ‚demisexuell‘ nicht einheitlich verwendet, sodass es zu diesen Unschärfen kommt. Der Hauptunterschied zwischen demisexuellen und nicht-demisexuellen Menschen scheint darin zu bestehen, dass sie grundsätzlich keine spontane sexuelle Anziehung oder Lust gegenüber einer noch unbekannten Person empfinden können, sich also z.B. nicht auf der Straße nach jemandem umdrehen würden, weil sie sie attraktiv finden.

Während Asexualität eine stark pathologisierte und stigmatisierte Variante sexueller Vielfalt darstellt, trifft dies jedoch auf Demisexualität so nicht zu. Vielmehr handelt es sich um eine weitere Facette von heteronormativen und mononormativen Vorgaben, die sich vor allem an Frauen richten: Für Frauen ist traditionell sexuelle Anziehung nur dann legitim/moralisch vertretbar, wenn sie bereits eine tiefe Bindung zu einem Mann entwickelt haben (Liebe, Hingabe, Aufopferung als typisch weibliche Eigenschaften, die sie abhängig von Männern machen) und wenn sie die ‚eine, wahre Liebe‘ gefunden haben (Monogamie-Ideal). Mc Alister spricht daher von Zwangsdemisexualität und zeigt auf, wie z.B. in Liebesromanen Liebe und Sexualität als angeblich untrennbar verknüpft werden. In den letzten Jahrzehnten wurde diese traditionelle Sexualmoral als Idealbild und Praxis zunehmend infrage gestellt, wirkt jedoch in vielen Kontexten nach wie vor weiter, z.B. in Anti-Promiskuitätsdiskursen.

Menschen, die sich als demisexuell bezeichnen, fallen also in erster Linie in sexuell offeneren kulturellen Kontexten aus der Norm, da sie tendenziell eher Werten anhängen, die z.B. in Jugendkulturen teilweise als veraltet angesehen würden (z.B. solange mit Sex warten, bis man sich gut kennt). Der Übergang zwischen dem Vertreten einer Sexualmoral, die sich gegen flüchtigen Sex wendet, und einer Veranlagung, die ein sexuelles Begehren vor einer emotionalen Bindung ausschließt, scheint hier fließend.

Menschen mit Behinderungen wurde lange Zeit ein sexuelles Verlangen abgesprochen (Asexualität als Fremdzuschreibung/Zwang). Während heute zumindest in Fachdiskursen zunehmend akzeptiert wird, dass Menschen mit Behinderungen ebenfalls sexuelle Wesen sind, werden sie oft als quasi demisexuell beschrieben (angeblich weniger starke sexuelle Bedürfnisse als Menschen ohne Behinderungen, emotionale Nähe angeblich in Beziehungen wichtiger als Sexualität, nach dem Motto „Kuscheln statt Genitalsex“). Und/oder es wird versucht, ihnen eine bestimmte Sexualmoral vorzuschreiben oder zumindest nahezulegen, in der Sexualität immer mit Liebe verbunden sein muss und nur in Maßen genossen werden darf. Hier scheinen insofern Momente der Zwangsdemisexualität am Wirken zu sein. Wichtig ist also, dass demisexuell wie alle anderen sexuellen Identitäten immer eine Selbstbezeichnung darstellen muss und keine Diagnose oder kein Konzept ist, das einer Person aufgezwungen werden kann. Menschen mit Behinderungen können wie alle anderen auch selbstbestimmt allosexuell, demisexuell oder asexuell sein.


Literatur

  • Baumgart, Annika/Kroschel, Katharina (2022): [Un]sichtbar gemacht. Perspektiven auf Aromantik und Asexualität. Münster: edition assemblage.
  • Klesse, Christian (2007): The spectre of promiscuity. Gay male and bisexual non-monogamies and polyamories. Aldershot: Ashgate.
  • McAlister, Jodi (2014): ‚That complete fusion of spirit as well as body‘: Heroines, heroes, desire and compulsory demisexuality in the Harlequin Mills & Boon romance novel. In: Australasian Journal of Popular Culture, 3. Jg., H. 3, S. 299-310. https://doi.org/10.1386/ajpc.3.3.299_1.
  • McGowan, Kat (2015): Young, attractive, and totally not into having sex.
    Online unter www.wired.com/…, Stand: 30.05.2022
  • Watzlawick, Meike (2020): Sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten: Thinking outside the box(es)? Überlegungen aus entwicklungspsychologischer Perspektive. In: Timmermanns, Stefan/Böhm, Maika (Hrsg.): Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Interdisziplinäre Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 22-39.