Allosexuell

Allosexuelle Menschen haben den Wunsch oder das Bedürfnis nach Sexualität und sexuellen Beziehungen. In unserer Gesellschaft spielt Sexualität eine wichtige Rolle. Früher durften bestimmte Personengruppen kein Bedürfnis nach Sexualität haben, z.B. alte Menschen und Menschen mit Behinderungen. Das hat sich jetzt geändert. Vielmehr muss man heutzutage ein sexuelles Bedürfnis haben, um ‚gesund‘ und ‚glücklich‘ zu sein. Asexuelle Menschen haben kein oder wenig Bedürfnis nach Sexualität. Jeder soll aber das Recht haben, seine Sexualität oder Nicht-Sexualität ausleben zu dürfen. Auch asexuelle Menschen sollen das dürfen.

In unserer Gesellschaft spielen Sexualität und sexuelle Identität vor allem seit dem 19. Jahrhundert zunehmend eine zentrale Rolle im Leben der Menschen. Sexualität wird spätestens seit Freud als menschliches Grundbedürfnis verstanden und dementsprechend z.B. sexuelle Rechte für alle eingefordert. Dies geht einher mit einer Liberalisierung der Sexualmoral, so werden vormals als unmoralisch oder krankhafte Veranlagungen, gesundheitsschädlich diffamierte Praxen wie Masturbation, Sex um der Lust und nicht der Fortpflanzung oder Liebe wegen oder auch gleichgeschlechtliche Praktiken, usw. zunehmend als ‚normale‘ Ausdruckformen menschlicher Bedürfnisse und Gefühle angesehen oder sogar als gesundheitsfördernd betrachtet (z.B. das Erleben eines Orgasmus als Entspannung oder Stressabbau, Küssen als das Verbrennen von Kalorien, usw.). Dank dieser Perspektiven auf Sexualität werden u.a. Menschen mit Behinderungen nach und nach auch als sexuelle Wesen verstanden. Andererseits hat die Rede von sexuellen Grundbedürfnissen auch dazu geführt, dass sexuell zu sein, eine sexuelle Identität zu haben, sexuelle Erfahrungen zu machen, sexuelle Beziehungen zu führen, usw. zu einer starken Norm geworden ist: Es wird erwartet, dass dies zu einer Standard- oder erfolgreichen Biographie dazugehört und dass alle Menschen den Wunsch nach Sexualität und Beziehung verspüren. Menschen, die kein Sexualleben haben, wird per se ein Mangel unterstellt. Jedoch gibt es auch Individuen, die sich als asexuell verstehen. Vor dem Hintergrund unterscheidet man daher auch in allosexuelle und asexuelle Menschen.

Allosexuelle Menschen haben ein Bedürfnis nach Sexualität und mehrheitlich auch nach sexuellen Beziehungen. Darüber hinaus haben allosexuelle Menschen in der Regel weitere Präferenzen, mit wem sie ihre Sexualität wie ausleben wollen, z.B. mit einem oder mehreren bestimmten Geschlechtern, in einer bestimmten Beziehungskonstellation (monogam, nichtmonogam, Single) oder auf eine bestimmte Art (z.B. mit oder ohne Sexspielzeug). Allosexuell wird in der Regel nicht als Selbstzeichnung verwendet. Der Begriff kann jedoch die bisher kaum reflektierte Norm, dass alle Menschen sexuell empfinden und leben müssen, sichtbarer machen.

Menschen mit Behinderungen wurde oft und teilweise bis heute ein eigenes sexuelles Bedürfnis abgesprochen. Insofern können sie ggf. davon profitieren, wenn in der Gesellschaft über die Norm der Allosexualität aktiver nachgedacht wird und eine größere Sensibilität dafür entstehen würde, welchen Menschen ein sexuelles Bedürfnis zu Unrecht abgesprochen wird (z.B. Menschen mit Behinderungen, älteren Menschen) und welchen Menschen ein sexuelles Bedürfnis zu Unrecht unterstellt oder aufzuzwingen versucht wird (asexuellen Menschen). Letztlich geht es darum, sexuelle Selbstbestimmung aller zu verwirklichen, inklusive des Rechts darauf, eine asexuelle Identität und Lebensweise zu wählen.


Literatur

  • Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.) (2017): Sexualität und Behinderung. Forum Sexualaufklärung und Familienplanung, H. 1.
  • Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.) (2010): Sexualität und Behinderung. Forum Sexualaufklärung und Familienplanung, H. 1.
  • Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.) (2001): Sexualität und Behinderung. Forum Sexualaufklärung und Familienplanung, H. 2-3.
  • Debus, Katharina/Laumann, Vivien (Hrsg.) (2018): Pädagogik geschlechtlicher, amouröser und sexueller Vielfalt. Zwischen Sensibilisierung und Empowerment. Herausgegeben vom Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V.
    Online unter interventionen.dissens.de/…, Stand: 30.05.2022
  • Sielert, Uwe (2015): Einführung in die Sexualpädagogik. Weinheim/Basel: Beltz, 2. Auflage.