Aromantisch

Die romantische Liebe ist eine Idee, die im 19. Jahrhundert in Europa entstand. Seither gilt in unserer Kultur die Vorstellung, dass jeder Mensch einen anderen Menschen über alles lieben und gleichzeitig begehren soll. Manche Menschen empfinden aber keine romantischen Gefühle – sie sind dann aromantisch. Manche haben kein Bedürfnis nach Sexualität – sie sind dann asexuell. Menschen mit Behinderungen wurde früher unterstellt, dass sie kein Bedürfnis nach romantischer Liebe oder Sexualität haben. Das ist falsch und ändert sich mittlerweile. Jeder soll seine Art zu lieben und seine Form der Sexualität selbst bestimmen dürfen. Man hat also auch ein Recht darauf, aromantisch oder asexuell sein zu dürfen.

Das Idealbild der romantischen Liebe spielt insbesondere in modernen mono-normativen kulturellen Kontexten eine zentrale Rolle in der emotionalen Sozialisation von Menschen und ihren Erwartungshaltungen in Bezug auf sexuelle/intime Beziehungen.

Historisch war die Romantik eine Gegenbewegung zur ‚Kälte‘ der Aufklärung (Rationalität) und Industrialisierung (Naturbeherrschung). Die romantische Liebe als ein Ideal der Epoche der Romantik betonte zwar die Individualität des Menschen, aber legte vor allem Wert auf die Komplementarität (gegenseitiges Ergänzen der Partner*innen zur Vollkommenheit) und die Höchstrelevanz (Partner*in und Beziehung als das ein und alles im Leben). Erst als die romantische Liebe von einem avantgardistischen Ideal im 19. Jahrhundert zu einer allgemeinen Norm des Bürgertums wurde, fand eine normative Verknüpfung von der Ehe mit Liebe und Sexualität statt (vorher war die Ehe vor allem auf ihre wirtschaftliche und ggf. politische Funktion begrenzt). Das Konzept der romantischen Liebe war dabei stets eng mit heteronormativen Vorstellungen verknüpft, was in dem Prinzip der Komplementarität begründet wurde: denn nur in der Verbindung von Gegensätzen (Mann – Frau) war das Erreichen der Vollkommenheit möglich. Diese Art der Verbindung wurde zudem als Zeichen weißer und bürgerlicher Überlegenheit über alle anderen gedeutet: nur ihnen wurde Lust zugestanden, zu echter Liebe seien nur die überlegenen ‚Rassen‘ und Klassen fähig.

Heutzutage lebt das Ideal der Romantik weiter, z.B. in der Populärkultur (Film, Musik, Literatur) und ist eng mit bestimmten Symbolen und Ritualen (Kerzenlicht, Feiern des Hochzeitstages) und gemeinsamen Konsum als Paar (Essengehen, Strandurlaub mit Sonnenuntergang) verknüpft. Das Erleben von Romantik ist somit einerseits ein Gefühl, das als ganz unberechenbar und authentisch erlebt werden soll, eine*n überwältigen und aus der Bahn werfen soll, aber gleichzeitig stark normiert und vereinheitlicht ist, also einen auf die ‚rechte Bahn‘ bringt.

Während sich viele Menschen romantische Erlebnisse wünschen und nach einer romantischen Liebesbeziehung suchen, gab und gibt es immer wieder Kritik an dem Ideal der romantischen Liebe und der Monogamie-Norm, z.B. im Rahmen der 1968er-Studentenbewegung, wo Monogamie als ‚Monoton-ogamie‘ verunglimpft wurde und mit Lebensformen wie Kommunen experimentiert wurde, die die romantische Zweierbeziehung und bürgerliche Kleinfamilie ersetzen sollten. Zwar konnten sich diese alternativen Lebensformen nicht gesamtgesellschaftlich durchsetzen, aber die Art und Weise, Beziehungen zu leben ist in den letzten Jahrzehnten deutlich vielfältiger geworden und auch ein selbstgewähltes Leben als Single ist mittlerweile möglich. Vor diesem Hintergrund gibt es Menschen, die sich selbst als aromantisch bezeichnen, weil sie kein Verlangen nach einer romantischen Liebesbeziehung haben und/oder sich nicht oder nur selten ‚heftig‘ verlieben. Aromantisch können Menschen jeglicher sexueller Orientierung sein. Wer aromantisch empfindet, kann asexuell sein oder dennoch ein sexuelles Verlangen verspüren und z.B. ein Leben als sexuell aktive*r Single führen oder sexuelle/intime Freundschaften ohne das Element romantischer Liebe pflegen. Wichtig ist, dass aromantisch zu empfinden nicht gleichbedeutend mit einer Persönlichkeitsstörung ist (z.B. Bindungsunfähigkeit), sondern einfach eine weitere Variante der sexuellen Vielfalt der Menschen darstellt.

Aromantik und Asexualität wurde Menschen mit Behinderungen oft pauschal unterstellt. Wichtig ist daher zu betonen, dass es bei Aromantik um Selbstbestimmung geht: Alle haben das Recht, sich als aromantisch zu verstehen, wenn das dem eigenen Empfinden und den eigenen Wünschen am besten entspricht. Andere Menschen oder Institutionen haben hingegen nicht das Recht vorzuschreiben, ob eine Person für romantische Beziehungen geeignet ist oder nicht.


Literatur

  • Baumgart, Annika/Kroschel, Katharina (2022): [Un]sichtbar gemacht. Perspektiven auf Aromantik und Asexualität. Münster: edition assemblage.
  • Carter, Julian B. (2007): The Heart of Whiteness. Normal Sexuality and Race in America, 1880-1940. Durham, NC/London: Duke University Press.
  • Illouz, Eva (2003): Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Frankfurt am Main/New York: Campus.
  • Luhmann, Niklas (1984): Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 4. Auflage.
  • Mitchell, Heather/Hunnicutt, Gwen (2019): Challenging Accepted Scripts of Sexual „Normality“: Asexual Narratives of Non-normative Identity and Experience. In: Sexuality and Culture, 23. Jg., S. 507-524. https://doi.org/10.1007/s12119-018-9567-6.
  • Mayer, Gesa (2014): Mangel-Erscheinungen. Die Monogamie-Norm und ihre Logik des Mangels. In: Nagelschmidt, Ilse/Borrego, Britta/Beyer, Uta (Hrsg.): Interdisziplinäres Kolloquium zur Geschlechterforschung II. Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 171-197.
  • Tyrell, Hartmann (1987): Romantische Liebe – Überlegungen zu ihrer „quantitativen Bestimmtheit“. In: Baecker, Dirk/Markowitz, Jürgen/Stichweh, Rudolf (Hrsg.): Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 570-599.