Adultismus

Adultismus bedeutet, dass man bestimmte Vorstellungen von ‚Erwachsensein‘ als Maßstab für alle Menschen gelten. So werden Kinder und junge Menschen diskriminiert, weil sie nicht ‚erwachsen‘ sind. Zum Beispiel werden Kinder und Jugendliche als ‚unreif‘ verstanden, die keine ‚erwachsenen‘ und damit keine ‚richtigen‘ Entscheidungen treffen könnten. Mit Kindheit und Jugend verbindet man dann Begriffe wie ‚irrational‘ oder nicht intelligent. Das sind aber Vorurteile. Wenn man Adultismus betreibt, dann denkt man auch, dass Kinder und Jugendliche keine wichtigen Entscheidungen treffen können. Deshalb haben sie weniger Rechte als erwachsene Menschen. In vielen Gesellschaften wurden aber nicht nur Kinder und Jugendliche von diesen Rechten ausgeschlossen, sondern auch alle anderen Menschen, von denen man glaubt, dass sie keine ‚richtigen‘ Entscheidungen treffen können. Das sind z.B. Frauen und Menschen mit Behinderungen, und früher auch Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe.

Der Begriff Adultismus stammt aus dem Forschungsfeld der Childhood Studies, das Kindheit als eine soziale Konstruktion versteht, die sich im Laufe der Zeit wandelt und u.a. nach Geschlecht differenziert und klassenspezifisch ist. Adultismus (abgeleitet von „adult“, englisch: „erwachsen“) beschreibt ein strukturelles Machtverhältnis, das Erwachsene und Erwachsensein als prinzipiell höher bewertet als Kinder und Kindheit. Es wird angenommen, dass Erwachsene allein aufgrund des Alters intelligenter, rationaler, kompetenter als Kinder und Jugendliche seien. Somit dient Adultismus u.a. der Rechtfertigung der mangelnden Partizipation von Kindern in der Gesellschaft.

In einer adultistischen Gesellschaft dominiert der Standpunkt von Erwachsenen: Erwachsensein wird als selbstverständlicher Standard gesehen, an dem sich Kinder messen müssen. Kinder werden u.a. als ‚unfertige Erwachsene‘ konstruiert. Erwachsensein wird nicht nur als ein Zustand definiert, in dem der Körper aufgehört hat zu wachsen, sondern pauschal mit Reife und Vernunft assoziiert. Im Umkehrschluss wird Kindern pauschal Reife, Vernunft, Entscheidungsfähigkeit und Handlungsmacht abgesprochen. So geht die Entwicklungspsychologie davon aus, dass Kinder bis zum Erreichen dieses idealisierten Endziels (Reife) verschiedene Entwicklungsphasen durchlaufen. Jean Piaget z.B. beschreibt aus einer adultistischen Perspektive heraus Kinderspiele als trivial. Für Kinder jedoch ist Spielen von essenzieller Bedeutung, um ihrer Umgebung Sinn zu verleihen und Kompetenzen zu erwerben. Die Childhood Studies würden daher die Perspektive der Kinder selbst als Ausgangspunkt für eine Analyse der Bedeutung des Spielens nehmen. Aus der Sicht der Childhood Studies normieren solche Phasenmodelle einer Standard-Entwicklung die Kindheit zunehmend: jede ‚Abweichung‘ vom Standardverlauf werde dokumentiert und als potenzieller Anlass einer Intervention angesehen. Kinder, die als ‚behindert‘ eingestuft werden, sind diesem Abgleichen mit einer Normentwicklung noch stärker ausgesetzt als andere. Darüber hinaus wird Menschen, die tatsächlich oder vermeintlich nicht alle Phasen solcher Modelle erreichen, der Status des reifen Erwachsenen und somit in letzter Konsequenz das ‚ebenbürtige Menschsein‘ abgesprochen. Das betraf und betrifft u.a. Frauen, BiPOC und insbesondere Menschen mit Behinderungen, denen allen in westlichen, kolonialistischen kulturellen Kontexten die (volle) Vernunftbegabung abgesprochen wurde und die häufig bis heute als besonders emotional und anfällig für irrationales Verhalten angesehen werden.

Adultismus hat nicht nur weitreichende Folgen für Kinder und als kindlich konstruierte Erwachsene, sondern auf alle Menschen, denn alle möglichen bei Erwachsenen auftretenden Unbeständigkeiten, Unausgewogenheiten, Unsicherheiten, usw. werden als kindlich oder ‚kindisch‘ anstatt einfach menschlich gesehen. Ein Verhalten als ‚kindisch‘ zu bezeichnen, ist dabei eine klare Abwertung. Zum Erwachsenwerden gehört daher ein Prozess der Entfremdung von den eigenen Bedürfnissen, Gefühlen, usw.; vor allem in der Öffentlichkeit dürfen diese nicht gezeigt werden.

Die Konstruktion der Kindheit als ‚das Andere‘ des Erwachsenseins führt u.a. dazu, dass Kindern pauschal die Fähigkeit, richtige Entscheidungen für sich zu treffen, abgesprochen wird, sodass ihnen wenig Raum für Selbstbestimmung bleibt. Tagesabläufe, Nahrungsaufnahme usw. werden ihnen vorgeschrieben. Eine weitere folgenreiche Konstruktion ist die von kindlicher Unschuld. Einerseits führt dies dazu, dass Kinder einer Art Schonphase unterstellt sind: Sie werden eine Zeit lang unter besonderen Schutz gestellt. Andererseits dient das Konzept der Unschuld u.a. dazu, Kinder nicht ernst zu nehmen. Auch wird nicht allen Kindern die Unschuldsvermutung und der Schutz gewährt, so wurden teilweise Kinder der Arbeiterklasse und nicht-weiße Kinder als prinzipiell ‚verdorben‘ konstruiert. Auch die Geschichte der Heimerziehung ist durchzogen von Bildern von Heimkindern als mit einem schlechten Charakter ausgestattet (und somit selbst schuld an ihrer Lage). In Deutschland wurde das Konzept des Adultismus erst in jüngerer Zeit aufgegriffen und findet langsam Eingang in pädagogische Praxis und Soziale Arbeit: als Möglichkeit der Selbstreflexion professionellen Handelns, um Barrieren zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen in den eigenen Institutionen und der eigenen Praxis zu bekämpfen.


Literatur

  • Corney, Tim u.a. (2022): Youth participation: Adultism, human rights and professional youth work. In: Children & Society, 36. Jg., H. 4, S. 677-690.
  • Kehily, Mary J. (Hrsg.) (2009): An introduction to childhood studies. Open University Press, 2. Auflage.
  • Kelle, Helga/Tervooren, Anja (Hrsg.) (2008): Ganz normale Kinder. Heterogenität und Standardisierung kindlicher Entwicklung. Weinheim/München: Juventa.
  • NCBI Building Institute Schweiz (Hrsg.) (o.J.): NCBI Adultismus Selbstbeurteilung (individuell).
    Online unter www.ncbi.ch/…, Stand: 20.10.2022
  • Richter, Sandra (2013): Adultismus: die erste erlebte Diskriminierungsform? Theoretische Grundlagen und Praxisrelevanz.
    Online unter www.kita-fachtexte.de/…, Stand: 20.10.2022