Heteronormativität

Heteronormativität beschreibt eine Gesellschaftsform oder Kultur, die Heterosexualität als Maßstab setzt. Die heterosexuelle Lebensweise wird als normal, natürlich und gesund angesehen. In dieser Logik gibt es nur Mann und Frau und beide Geschlechter haben eindeutige Rollen, Aufgaben und Verhaltensweisen. Die heteronormative Lebensweise ist ein Standard oder eine Norm. Das heißt, alle haben durch die Schule, Bücher oder durch Erziehung gelernt, wie man sich als heterosexueller Mann und als heterosexuelle Frau verhalten, sprechen oder aussehen soll. Wenn man sich so verhält, hat man alle Rechte und Vorteile. Viele Menschen möchten aber anders und nicht in dieser Lebensweise leben. Zum Beispiel weil das nicht zu ihnen passt, oder sie homosexuell sind oder sich nicht als Mann oder als Frau fühlen. Diese Menschen verhalten sich dann oft anders als diese Norm. Das finden manche Leute nicht gut und behandeln Schwule und Lesben deswegen schlechter. Dagegen wehren sich viele Menschen, die sich eine offene Gesellschaft wünschen.

Der Begriff der Heteronormativität stammt aus der sogenannten Queer Theory, die sich mit gesellschaftlichen Normen zu Geschlecht und Sexualität befasst, und geht auf den US-amerikanischen Soziologen Michael Warner zurück. Warner beschreibt damit eine Denkweise, die das heterosexuelle Paar als die grundlegende Einheit der Gesellschaft versteht. Warner und andere Queer-Theoretiker*innen wie die US-amerikanische Philosophin Judith Butler zeigten, dass die Zugehörigkeit zu einem von zwei Geschlechtern (Mann/Frau) sowie eine heterosexuelle Orientierung in vielen kulturellen Kontexten Vorbedingungen darstellen, um als (vollwertiger) Mensch mit allen Rechten anerkannt zu werden.

Heteronormativität ist ein Begriff, der eine kritische Gesellschaftsanalyse ermöglichen soll. Der Fokus liegt dabei auf zwei gesellschaftlichen Strukturen bzw. Normen und ihren Wechselwirkungen: Die Zweigeschlechtlichkeit und die Heterosexualität als selbstverständliche und unhinterfragte Maßstäbe menschlicher Existenz. Eine heteronormative Kultur zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass Heterosexualität pauschal als natürlich, psychisch gesund, gut (im moralischen Sinne) und schlichtweg „normal“ gilt, während andere Formen von Sexualität im Vergleich dazu abgewertet oder nicht beachtet werden. Dies zeigt sich vor allem auch in der strukturellen und institutionellen Bevorteilung von heterosexuellen Lebensweisen, wie traditionell in der Ehe, aber auch z.B. in Darstellungen von Familien in Kinderbüchern. Trotz aktueller Veränderungen wie der Öffnung der Ehe bestehen andere heteronormative Elemente in der Gesellschaft fort. Dies zeigt sich u.a. in der Notwendigkeit eines Coming-Outs für nicht-heterosexuelle Personen sowie der Verbreitung von Homophobie bzw. Homonegativität.

Heterosexualität als gegengeschlechtliche Praxis oder Begehren ist dabei von Heteronormativität als gesellschaftliche Norm zu unterscheiden. Heterosexuelle Menschen können trotz ihrer Orientierung/Lebensweise heteronormative Strukturen und Gewohnheiten hinterfragen und z.B. als Sozialarbeiter*innen oder Sozialpädagog*innen nicht automatisch davon ausgehen, dass ihre Klient*innen heterosexuelle Bedürfnisse haben, sondern sexuelle Vielfalt zur Grundlage ihres Handelns machen. Umgekehrt werden auch nicht-heterosexuelle Menschen in einer heteronormativen Gesellschaft sozialisiert und haben daher heteronormative Sichtweisen ebenfalls verinnerlicht. Da sie jedoch zwangsläufig in ihrer Biographie mit der Norm in Konflikt geraten, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie sich damit einen kritischen und reflektierten Umgang angeeignet haben.

In mehrfacher Hinsicht kann es sinnvoll sein, Heteronormativität als analytischen Begriff zu erweitern, erstens in Bezug auf weitere Normierungen von Sexualität, die zum Idealbild von Heterosexualität dazugehören, wie beispielsweise eine monogame Beziehung oder bestimmte Rollenverteilungen in Beziehungen (Männer aktiv, Frauen passiv) usw. Zweitens in Bezug auf die Wechselwirkungen mit anderen Diversitätskategorien. So wurde an diversen Beispielen gezeigt, dass nicht alle heterosexuellen Menschen heterosexuelle Privilegien genießen. Z.B. werden heterosexuelle thailändische Frauen in Deutschland nicht wie weiße deutsche Frauen in heterosexuellen Paarbeziehungen als ehrenhaft oder beschützenswert angesehen, sondern als „gekaufte Bräute“ gelesen, die sich auf moralisch verwerfliche Weise Zugang nach Deutschland erschleichen würden.

Menschen mit Behinderungen werden im Gegensatz zu nicht-behinderten Menschen nicht in erster Linie in die Schublade „heterosexuell“ gepresst, sondern sie werden häufig generell als „asexuell“ gesehen (oder im Falle von Menschen mit kognitiven Einschränkungen alternativ auch als „triebhaft“ und „hypersexuell“). Ihr Hauptproblem ist also nicht unbedingt die Heteronormativität, sondern das viel grundlegendere Absprechen eines eigenen, legitimen Begehrens überhaupt. In zweiter Instanz jedoch wird gerade Menschen mit Behinderung häufig auch die Möglichkeit einer selbstbestimmten nicht-heterosexuellen Identität abgesprochen. So wird teilweise gleichgeschlechtliches Verhalten von Menschen mit kognitiven Einschränkungen als behinderungsbedingtes, zu korrigierendes Fehlverhalten gedeutet. Auch Menschen mit Behinderungen haben jedoch ein Recht auf das selbstbestimmte und einvernehmliche Ausleben ihrer Sexualität jenseits von normativen Vorgaben.


Literatur

  • Barker, Meg-John/Scheele, Jules (2021): Queer: Eine illustrierte Geschichte. Münster: Unrast.
  • Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/Main: Suhrkamp
  • Genschel, Corinna (1996): Fear of a Queer Planet: Dimensionen lesbisch-schwuler Gesellschaftskritik. In: Das Argument, H. 216, S. 525-537.
  • Haritaworn, Jin (2007): (No) Fucking Difference? Eine Kritik an ‘Heteronormativität‘ am Beispiel von Thailändischsein. In: Hartmann, Jutta u.a. (Hrsg.): Heteronormativität. Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht. Wiesbaden: VS Verlag, S. 269-289.
  • Jagose, Annamarie (2001): Queer Theory: Eine Einführung. Berlin: Querverlag.
  • Klapeer, Christine M. (2015): Vielfalt ist nicht genug! Heteronormativität als herrschafts- und machtkritisches Konzept zur Intervention in gesellschaftliche Ungleichheiten. In: Schmidt, Friederike u.a. (Hrsg.): Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Wiesbaden: Springer, S. 25-44.
  • Raab, Heike 2012. Intersektionalität und Behinderung – Perspektiven der Disability Studies.
    Online unter portal-intersektionalitaet.de/…, Stand: 11.12.2021
  • Warner, Michael (1993): Introduction. In: Ders. (Hrsg.): Fear of a Queer Planet. Minneapolis/London: University of Minnesota Press, S. vii-xxxi.
  • Woltersdorff, Volker alias Lore Logorrhöe (2003): Queer Theory und Queer Politics. In: UTOPIE kreativ, H. 156, S. 914-923.