Sexuelle Vorlieben

Menschen haben eine Sexualität, eine sexuelle Orientierung und eine Geschlechtsidentität. Es gibt unzählige Möglichkeiten und Arten, seine Sexualität, seine sexuelle Orientierung oder seine Geschlechtsidentität auszuleben. Das ist abhängig davon, wer oder was Lust bereitet. Das nennt man dann sexuelle Vorliebe. In vielen Gesellschaften stellte lange Zeit die heterosexuelle Monogamie die einzige ‚normale‘ und ‚erlaubte‘ sexuelle Vorliebe dar. Damit waren auch strikte Regeln verbunden, wie heterosexuelle Männer und Frauen Sex haben dürfen (z.B. nur in Stellungen, wo der Mann aktiv ist, nur vaginal, usw.). Alle anderen Arten und Formen wurden als ‚nicht normal‘ oder als ‚pervers‘ verstanden und viele sexuelle Vorlieben waren deshalb auch verboten. Heutzutage geht man eher davon aus, dass jede sexuelle Vorliebe in Ordnung ist. Sie muss nur ‚einvernehmlich‘ sein. Das heißt, die Menschen, die miteinander ihre sexuellen Vorlieben ausleben wollen, sollen alle damit einverstanden sein. 

Die sexuelle Orientierung umschreibt, auf welches Geschlecht oder welche Geschlechter sich das Begehren und/oder der Beziehungswunsch einer Person richtet. Die Präferenz bezogen auf Geschlecht ist jedoch kaum eine erschöpfende Beschreibung dessen, was die Sexualität eines Menschen ausmacht. Darüber hinaus gibt es viele weitere Kriterien, anhand derer man Begehren, Fantasien, Beziehungen oder konkrete sexuelle Praktiken kategorisieren kann oder könnte. So gibt es eine große Vielfalt in der Gestaltung von Beziehungen (z.B. man lebt monogam, oder nicht-monogam oder aromantisch usw.). Auch was die Art der sexuellen Begegnung oder bevorzugten sexuellen Praktiken angeht, haben Menschen durchaus unterschiedliche Wünsche oder Präferenzen, daher spricht man auch von sexuellen Vorlieben. Sexuelle Vorlieben können im Laufe des Lebens relativ stabil sein oder sich verändern, z.B. mit Alter, Erfahrung oder neuen Partner*innen. Dies können Präferenzen sein für:

  • bestimmte Praktiken (z.B. oral, anal, vaginal),
  • bestimmte Stellungen,
  • den Grad der Intimität (z.B. anonym/innerhalb einer Liebesbeziehung),
  • den Ort/Rahmen (z.B. privat/öffentlich oder im Schlafzimmer/auf einer Sexparty oder ohne Vergütung/als sexuelle Dienstleistung),
  • die Anzahl der beteiligten Personen (z.B. allein/zu zweit/in Gruppen),
  • eine Rolle (z.B. aktiv/passiv, oder dominant/submissiv oder inszenierte Gleichheit/inszeniertes Machtgefälle),
  • für den Grad der Außeralltäglichkeit (z.B. Rollenspiele und Fantasien/Begegnung in der Alltagspersönlichkeit),
  • für die Art und Intensität der Stimulation (z.B. sanft/Lustschmerz, zärtlich/grob),
  • die Art der Körperlichkeit (z.B. mit/ohne Erweiterung der biologischen Körper durch Sexspielzeug),
  • bestimmte Körperteile oder Materialien (z.B. Brüste/Füße, nackte Haut/Gummi),
  • den Grad der Zielgerichtetheit (z.B. effektives Erreichen eines Orgasmus/Tantra),

Die Liste lässt sich nicht abschließen, da die sexuelle Vielfalt letztlich jeden Versuch einer vollständigen Kategorisierung sprengt und sich auch ständig verändert, z.B. aufgrund neuer Informationen, neuer technischer Möglichkeiten (z.B. Gleitmittel, Vibratoren) usw.

So wie lange Zeit nur heterosexuelle Beziehungen als moralisch akzeptabel oder wertvoll galten, wurden und werden auch sexuelle Vorlieben gesellschaftlich unterschiedlich bewertet. So galt lange vor allem der vaginale Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau als Standard und im Rahmen von christlichen und kolonialen Diskursen darüber hinaus nur in bestimmten Stellungen (‚Missionarsstellung‘ als Alleinstellungsmerkmal der ‚zivilisierten‘, weißen Christen) als sittlich einwandfrei. Praktiken im Bereich des Fetisch oder BDSM hingegen wurden (sofern sie nicht in einem christlich-religiösen Kontext, z.B. der Flagellation stattfanden) lange pathologisiert, stigmatisiert und teilweise auch kriminalisiert. Dabei galt: je weiter von einem biologischen Modell entfernt, das den Sinn von Sexualität auf Fortpflanzung reduziert, desto stärker wurde die fragliche Praxis als ‚abweichend‘, ‚unnatürlich‘, ‚verwerflich‘, ‚pervers‘ usw. betrachtet. Mittlerweile setzt sich in der Gesellschaft langsam die Sicht durch, dass die vormals als ‚Perversionen‘ eingestuften Vorlieben jedoch nicht per se problematisch sind, sondern dass das wesentliche Kriterium sexueller Ethik das der Einvernehmlichkeit der Handlungen und Beziehungen darstellt. Daher wird heute zunehmend von sexueller Selbstbestimmung (und weniger von Normalität/Perversion) gesprochen. Auch für Menschen mit Behinderungen wird das Konzept sexueller Selbstbestimmung seit einiger Zeit eingefordert. Gerade im stationären Bereich stehen der konsequenten Umsetzung jedoch weiterhin Barrieren im Weg, auch wenn erste wichtige Veränderungen stattgefunden haben, wie die Verbesserung der Privatsphäre durch Einzelzimmer.


Literatur

  • Bauer, Robin (2020): Interdisziplinäre Perspektiven auf BDSM aus queer-theoretischer Sicht. In: Timmermanns, Stefan/Böhm, Maika (Hrsg.): Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Interdisziplinäre Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 179-193.
  • Sigusch, Volkmar (2005): Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion. Frankfurt am Main/New York: Campus.
  • Walter, Joachim (2008): Selbstbestimmte Sexualität als Menschenrecht – Standards im Umgang mit der Sexualität behinderter Menschen. In: Ders. (Hrsg.): Sexualbegleitung und Sexualassistenz bei Menschen mit Behinderungen. Heidelberg: Winter, S. 15-30.