Repronormativität und reproduktive Gerechtigkeit

Der Begriff Repronormativität setzt sich zusammen aus Reproduktion und Normativität. Es bedeutet, dass gewisse Menschen in der Gesellschaft Kinder kriegen sollen und andere nicht. Und dass es für viele Menschen die Regel ist, Kinder zu bekommen. Vor allem Frauen sollen Kinder bekommen und sich um sie kümmern. Wenn sie aber keine Kinder bekommen können oder keine Kinder wollen, dann werden sie von der Gesellschaft bemitleidet, oder sie werden als egoistisch dargestellt. In einigen Gesellschaften werden Frauen, die keine Kinder haben, als weniger wert gesehen als Frauen, die Kinder haben. Ohne Kinder scheinen Frauen dann keine richtigen Frauen zu sein und kein glückliches Leben zu führen. Aber z.B. Menschen mit Behinderung oder nicht-weiße Menschen sollen oft am Kinderkriegen gehindert werden. Menschen mit Behinderung hat man früher sogar unfruchtbar gemacht, dass sie keine Kinder bekommen können. Nicht-heterosexuelle Menschen hat man z.B. daran gehindert, Kinder adoptieren zu können. Dagegen wehren sich viele Menschen. Sie fordern Gerechtigkeit und das gleiche Recht für alle, selbst zu bestimmen, Kinder zu bekommen oder nicht zu bekommen.

Der Begriff der Repronormativität geht auf Katherine M. Franke zurück. Sie führte die Tatsache, dass ein eigenständiges weibliches Begehren und weibliche Lust kulturell unvorstellbar sind, auf die normative Gleichsetzung von Frausein mit Muttersein in einer Gesellschaft zurück. Franke geht es darum, diese scheinbar zwangsläufige Verknüpfung sowie die Natürlichkeit des Kinderwunsches allgemein zu hinterfragen und Reproduktion als kulturelle Norm zu verstehen. Diese ‚Repro-Norm‘ ist so wirkungsmächtig, dass ein kinderloses Leben häufig als bemitleidenswert gilt; Unfruchtbarkeit oder unfreiwillige Kinderlosigkeit wird als persönliche Tragödie gesehen, absichtliche Kinderlosigkeit hingegen als unverantwortlicher Egoismus.

Repronormativität sieht in Reproduktion die Grundvoraussetzung für ein erfülltes Leben und versteht Elternschaft als existenzielle, universelle Erfahrung des Menschseins. Dabei gilt genetische Elternschaft als wertvoller als soziale Elternschaft. Insbesondere Frausein wird derart mit Fruchtbarkeit und Mutterschaft gleichgesetzt, dass Frauen, die keine Kinder (mehr) kriegen (können), teilweise aufgrund der verinnerlichten Repro-Norm selbst in ihrer Weiblichkeit verunsichert sind bzw. ihnen das ‚vollwertige‘ Frausein teilweise abgesprochen wird. Repronormativität wirkt sich allerdings nicht auf alle Frauen gleichermaßen aus: Weiße cis Frauen ohne Behinderung stehen unter dem gesellschaftlichen Erwartungsdruck, Kinder zu kriegen, wohingegen arme und nicht-weiße Frauen und insbesondere Frauen mit Behinderungen an Mutterschaft gehindert oder zumindest davon entmutigt werden. Auch trans* Personen wurde Elternschaft lange strukturell verunmöglicht (z.B. durch das Transsexuellengesetz), das eine Änderung des Personenstands bis 2011 an eine operativ hergestellte Unfruchtbarkeit knüpfte) und die gewaltförmigen medizinischen Vereindeutigungen von inter* Körpern führ(t)en häufig zur Unfruchtbarkeit. Bei trans* Personen galt im Gegensatz zu cis Menschen ein Kinderwunsch als ‚nicht normal‘, bzw. als Anzeichen, dass sie nicht wirklich transsexuell seien. Wenn schwangere Transmänner wie Thomas Beatie als Medienspektakel inszeniert werden, bestätigt dies die Natürlichkeit von Reproduktion dadurch, dass der schwangere Mann als unnatürlich und abnormal dargestellt wird.

Das Konzept der „reproductive justice“ (reproduktive Gerechtigkeit) wurde 1994 von afroamerikanischen feministischen Aktivistinnen eingeführt. Reproduktive Gerechtigkeit basiert auf drei miteinander verbundenen Menschenrechten: Dem Recht der Elternschaft unter frei gewählten Bedingungen; dem Recht, durch die Verwendung von Verhütung, Schwangerschaftsabbruch oder Abstinenz keine (weiteren) Kinder zu kriegen und dem Recht, Kinder in einem sicheren und gesunden Umfeld, frei von individueller oder staatlicher Gewalt großzuziehen. Das Konzept reproduktiver Gerechtigkeit arbeitete von Beginn an mit einer intersektionalen Perspektive, die die Wechselwirkungen verschiedener Strukturkategorien auf reproduktive Rechte der kritischen Analyse und politischen Intervention zugängig machen wollte. Während es ursprünglich auf der Basis der kollektiven Erfahrung Schwarzer Frauen entworfen wurde, bezieht es auch andere Gruppen mit ein und kann z.B. auch auf Menschen mit Behinderung angewandt werden. Insbesondere Frauen mit Behinderung wurden lange Zeit zwangssterilisiert, eine Praxis, die auch mit der Reform durch das Betreuungsgesetz immer noch, nun aber unter anderen Vorzeichen stattfindet. So erfolgt die Einwilligung von Frauen mit Behinderung in Sterilisationen oder auch Verhütungsmethoden wie der Drei-Monatsspritze überwiegend unter Rahmenbedingungen, die durch Fehlinformationen, Druck oder Manipulation durch das Umfeld gekennzeichnet sind und daher nicht den ethischen Standards des Prinzips informierter Einwilligung entsprechen.

Beide Ansätze, Repronormativität als Analysewerkzeug und reproduktive Gerechtigkeit verdeutlichen, dass sich die Aufforderung, fruchtbar zu sein und sich zu mehren, nur an bestimmte Menschen richtet, währenden anderen systematisch Barrieren in den Weg gelegt werden oder ihre Reproduktion zumindest unerwünscht ist. Zu diesen Barrieren gehören nicht nur rechtliche Regelungen, sondern auch subtilere Formen wie Normen, die den Kinderwunsch selbst beeinflussen können: sehe ich mich selbstverständlich als potenzielles Elternteil oder passt Elternschaft nicht in das gesellschaftlich vermittelte Bild meiner Person, das ich verinnerlicht habe? Wird mir, z.B. als Mensch mit Behinderung immer wieder vermittelt, dass ich nicht für Elternschaft geeignet bin? Kommt Elternschaft so in meiner Lebensplanung als Option gar nicht vor oder ist Elternschaft so selbstverständlich Teil davon, dass fraglich wird, ob es sich hierbei um eine wirklich selbstbestimmte Entscheidung handelt?


Literatur

  • Bell Ann V. (2019): „I’m not really 100% a woman if I can’t have a kid“: Infertility and the intersection of gender, identity and the body. In: Gender & Society, 33. Jg., S. 629-651.
  • Franke, Katherine M. (2001): Theorizing yes: An essay on feminism, law, and desire. In: Columbia Law Review, 101. Jg., S. 181-208.
  • Kitchen Politics (Hrsg.) (2021): Mehr als Selbstbestimmung! Kämpfe für reproduktive Gerechtigkeit. Münster: edition assemblage.
  • Nixon Laura (2013): The right to (trans) parent: A reproductive justice approach to reproductive rights, fertility, and family-building issues facing transgender people. In: William & Mary Journal of Race, Gender, and Social Justice, 20. Jg., S. 73-103.
  • Ross, Loretta J. (2017): Reproductive Justice as Intersectional Feminist Activism. In: Souls, 19. Jg., S. 286-314.
  • Zinsmeister, Julia (2017): Behinderungen reproduktiver Freiheit und Gesundheit. In: djbZ, H. 1, S. 16. DOI: 10.5771/1866-377X-2017-1-16.