Polyamorie

Wenn man polyamor lebt, dann liebt man mehrere Menschen gleichzeitig. Mit diesen Menschen befindet man sich dann auch in Beziehungen. Man hat also mehrere Liebesbeziehungen gleichzeitig. Das unterscheidet polyamore Liebesbeziehungen von monogamen Liebesbeziehungen. Bei monogamen Beziehungen hat man nur eine Liebesbeziehung zu einem Menschen gleichzeitig. Der Begriff Polyamorie stammt aus den 1990er Jahren, nichtmonogame Beziehungen und Praktiken gibt es aber schon immer. Bei polyamoren Beziehungen sind Ehrlichkeit und Kommunikation sehr wichtig. Alle, mit denen man in einer Beziehung ist, sollen von den anderen Menschen wissen, die man auch liebt.

Der Begriff Polyamorie bedeutet wörtlich übersetzt „Mehrfachlieben“ und wurde erfunden, um zu betonen, dass es möglich ist, nicht nur mehrere sexuelle Partner*innen gleichzeitig zu haben, sondern auch mehrere Menschen gleichzeitig ‚romantisch‘ zu lieben und sich daher auch gleichzeitig in mehreren Liebesbeziehungen zu befinden.

Der Begriff Polyamorie steht somit für eine bestimmte Form von nichtmonogamen Beziehungen und wird auch genutzt, um sich von anderen nichtmonogamen Beziehungspraxen abzugrenzen; erstens von informellen, heimlichen Nebenbeziehungen (‚Seitensprung‘, ‚Fremdgehen‘), zweitens von institutionalisierten Formen von Nichtmonogamie und drittens aber auch von anderen subkulturellen Formen von Nichtmonogamie wie der offenen Beziehung oder Swinging, in denen das Paar weiterhin im Mittelpunkt steht oder die den Schwerpunkt eher auf sexuelle Freiheit anstatt auf das Konzept der Liebe setzen.

Es gibt schon seit Jahrhunderten eine breite Palette an nichtmonogamen Praxen und Selbstbezeichnungen in mono-normativen Kulturen, also in Kulturen, in denen Monogamie (wörtlich die „Einehe“) die Norm darstellt, insbesondere in Subkulturen wie z.B. der Schwulenszene, der BDSM-Szene, anarchistischen Kreisen oder Künstler*innen-Szenen. Es gibt u.a. auch eine lange linke und feministische Tradition der Kritik an der Monogamie-Norm, die teilweise in Lebensformenexperimenten wie Kommunen, Wohngemeinschaften oder anderen Kollektiven (als Alternative zur Kernfamilie) sowie auch Kritik an dem Konzept der Romantik ihren Ausdruck fand und findet.

Der Begriff Polyamorie stammt hingegen erst aus den 1990ern und verbreitete sich zunächst nur in bestimmten Kontexten, setzt sich aber zunehmend als breiter Dachbegriff für alle möglichen Formen von offener, einvernehmlicher Nichtmonogamie durch. Polyamorie als Selbstbezeichnung wird auf recht unterschiedliche Art und Weise benutzt, z.B. teilweise einfach als Beschreibung einer Beziehungskonstellation (polyamouröse/polyamore Beziehung), teilweise als eine Haltung (Philosophie der Freundschaft oder unbegrenzten Liebe), teilweise aber auch als eine Identität („ich bin poly“), wobei kontrovers ist, ob es sich um eine Praxis oder eine Veranlagung handelt.

Zentral ist jedoch, dass es sich bei Polyamorie um eine Beziehungspraxis handelt, in der eine Person mehrere Beziehungen gleichzeitig führt und alle daran Beteiligten darin informiert eingewilligt haben. D.h., es wird Partner*innen offen kommuniziert, dass eine Beziehung nicht exklusiv angelegt ist, sondern Sexualität, Intimität, Verliebtheit, Liebesbeziehung usw. gleichzeitig mit weiteren Personen gelebt wird (oder der Wunsch danach besteht).

Wie Polyamorie (vor allem im weiteren Sinne) konkret gelebt und umgesetzt wird und welche Formen es annimmt, kann dabei sehr unterschiedlich aussehen. Häufig wird in primäre und sekundäre Beziehungen unterschieden, z.B. ist ein Paar füreinander der Hauptbezugspunkt und andere Beziehungen sind nicht gleichberechtigt an Entscheidungen beteiligt, sondern ‚sekundär‘. Teilweise wird die Paarform aber auch aufgelöst, z.B. in manchen Dreiecksbeziehungen oder Beziehungsnetzwerken, in denen nicht in primäre und sekundäre Beziehungen unterschieden wird (oder das zumindest der Anspruch ist). Unabhängig von der konkreten Beziehungskonstellation besteht jedoch ein weitgehender Konsens in der Polyamorie-Community darüber, dass offene und ehrliche Kommunikation von zentraler Bedeutung ist. Darüber hinaus wird die Monogamie-Norm und ihre Effekte, wie z.B. eine Sozialisation zu Eifersucht, infrage gestellt und die Entwicklung alternativer Lebens- und Gefühlsweisen wie das Mitfreuen (statt Eifersucht und Neid) geschätzt.

Neuere empirische Forschung hat gezeigt, dass nichtmonogame Lebensweisen zu Unrecht abgewertet, stigmatisiert und diskriminiert werden. Denn die Qualität von Beziehungen hängt nicht per se von der Anzahl der Partner*innen ab, sondern u.a. davon, ob die Bedürfnisse aller Beteiligten angemessen berücksichtigt werden.

Wenn Menschen mit Behinderungen mehrere Beziehungen gleichzeitig führen oder wechselnde Partner*innen haben, wird dies teilweise nicht ernst genommen oder ihnen unterstellt, sie seien aufgrund ihrer Behinderung nicht in der Lage, eine monogame Beziehung zu führen. Aber auch Menschen mit Behinderungen führen vielfältige Formen von Beziehungen und haben ein Recht darauf, selbst zu bestimmen, ob sie monogam oder nichtmonogam leben wollen.


Literatur

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