Disability Studies

Disability heißt auf Englisch „Unfähigkeit“ oder „Behinderung“. Disability Studies sind ein Bereich der Forschung an Universitäten. Die Disability Studies sind aus der Behindertenbewegung entstanden. Darin untersucht man das Leben von Menschen mit und ohne Behinderung. Früher haben Menschen ohne Behinderung untersucht, wie es Menschen mit Behinderung geht. Menschen ohne Behinderung waren dann ‚normal‘ und ‚vernünftig‘, Menschen mit Behinderung waren dann ‚nicht normal‘ oder ‚nicht vernünftig‘. In den Disability Studies forschen Menschen mit Behinderungen selbst. Sie wollen zeigen, wie eine Welt für Menschen mit Behinderung sein sollte. Das Problem ist dann nicht die Behinderung, sondern die Welt, die nur für Menschen ohne Behinderung gemacht ist. Z.B. baut man Treppen, aber keine Aufzüge. Oder man schreibt Bücher in Schwerer Sprache. Oder es können nur Menschen ohne Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten. Die Disability Studies wollen das Schubladendenken ‚behindert/nicht-behindert‘ auflösen.

Die Disability Studies sind ein Forschungsfeld, das im Kontext der Behindertenbewegung entstanden ist. Mit den Disability Studies ist ein doppelter Perspektivenwechsel in der Forschung zum Thema Behinderung verbunden. Während vormals vor allem Menschen ohne Behinderung über Menschen mit Behinderung geforscht haben, begannen erstens Menschen mit Behinderungen selbst zu forschen, ermächtigten sich also vom Objekt zum Subjekt der Forschung. Zweitens ging damit eine Verschiebung in der inhaltlichen Perspektive vonstatten: statt Behinderung als (medizinisches) Problem zu beforschen, wird in den Disability Studies die ‚Normalgesellschaft‘ problematisiert. Die Disability Studies teilen somit das Motto der Behindertenbewegung, dass Behinderung kein medizinisches, sondern ein politisches Problem ist und setzen in der Forschung dem medizinischen Modell, das auf Defizite des Individuums abhebt, das soziale Modell von Behinderung entgegen.

Das soziale Modell geht davon aus, dass Behinderung wie andere Kategorien sozialer Ungleichheit/Differenz sozial konstruiert ist und dass Menschen nicht behindert sind, sondern (durch gesellschaftliche Strukturen) behindert werden. Analog z.B. zur Unterscheidung sex/gender in der Geschlechterforschung wird im sozialen Modell häufig in impairment und disability unterschieden. Impairment wird auch mit ‚Beeinträchtigung‘ übersetzt und bezieht sich auf die körperlich-anatomische Ebene (z.B. ein Mensch ist in der Mobilität eingeschränkt), disability wird mit ‚Behinderung‘ übersetzt und bezieht sich auf die soziale Ebene (z.B. Infrastruktur wird so gebaut, dass Menschen im Rollstuhl keinen Zugang haben). So liegt der Fokus in den Disability Studies auf der Untersuchung der Faktoren, die Menschen behindert machen und von Teilhabe und Teilnahme/Partizipation ausschließen, wie Praktiken der Aussonderung (z.B. Wohnheime, Werkstätten, Sonderschulen), Barrieren zur Teilhabe (z.B. Schwere Sprache), aber auch Normen (z.B. Leistungsgesellschaft, Schönheitsideale).

Die Unterscheidung in Beeinträchtigung und Behinderung ist dabei umstritten, weil sie Gefahr läuft, Beeinträchtigung auf einer rein biologisch-natürlichen Ebene als etwas misszuverstehen, das nichts mit sozialen Prozessen zu tun hat. Jedoch ist bereits die Kategorisierung von Menschen in behindert/nicht-behindert (bzw. behindert/gesund, behindert/normal usw.) eine soziale Konstruktion. Denn die Vielfalt menschlicher Körper könnte auch mit anderen Bedeutungen versehen werden. Auch scheint willkürlich, wo genau die Grenze festgelegt wird und die Betonung der Unterschiede verschleiert Gemeinsamkeiten über diese Grenze hinweg.

Das Konzept Behinderung dient dabei als Abgrenzungsfolie, um andere Menschen als normal, fähig, vernünftig usw. zu konstruieren. So schlägt Tervooren z.B. zur Überwindung des Gegensatzes behindert/nicht-behindert das Konzept des verletzlichen Körpers vor, den alle Menschen gemeinsam haben. Die Diskussion um die Bedeutung des Körpers für Menschen mit Behinderung bleibt in den Disability Studies jedoch umstritten; so gibt es wiederum Kritik am sozialen Modell, dass es die Bedeutung des Körpers für Menschen mit Behinderung z.B. in der Entwicklung eines Selbstbilds und Identität vernachlässigt.


Literatur

  • Brehme, David u.a. (Hrsg.) (2020): Disability Studies im deutschsprachigen Raum. Zwischen Emanzipation und Vereinnahmung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
  • Rathgeb, Kerstin (Hrsg.) (2012): Disability Studies. Kritische Perspektiven für die Arbeit am Sozialen. Wiesbaden: Springer VS.
  • Tervooren, Anja (2002): Der verletzliche Körper als Grundlage einer pädagogischen Anthropologie. In: Lemmermöhle, Doris/Fischer, Dietlind/Klika, Dorle (Hrsg.): Lesarten des Geschlechts. Zur (De-) Konstruktionsdebatte in der erziehungswissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung. Opladen: Leske + Budrich, S. 245-255.
  • Waldschmidt, Anne (Hrsg.) (2022): Handbuch Disability Studies. Wiesbaden: Springer VS.
  • Waldschmidt, Anne (2007): Die Macht der Normalität: Mit Foucault „(Nicht-)Behinderung” neu denken. In: Anhorn, Roland/Bettinger, Frank/Stehr, Johannes (Hrsg.): Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit. Eine kritische Einführung und Bestandsaufnahme. Wiesbaden: VS, S. 119-133.