Antisemitismus ist ein schweres Wort. Übersetzt heißt das Wort ‚Semitengegnerschaft‘. Man hat also etwas gegen Menschen, die semitische Sprachen sprechen (z.B. Arabisch, Hebräisch, Amharisch etc.). Heute gilt der Begriff nur noch für jüdische Menschen. Antisemitismus bedeutet heute, dass man etwas gegen jüdische Menschen hat. Jüdische Menschen werden dabei als eine Gruppe von Menschen zusammengefasst. Ihnen werden als Gruppe Eigenschaften zugeschrieben, die für alle Menschen in der Gruppe gelten. Zum Beispiel wird jüdischen Menschen unterstellt, sie seien schuld an vielen Krisen und Problemen in der Welt. Oder sie würden die Welt kontrollieren. Oder sie seien von ‚Natur‘ aus gierig nach Geld und Macht. Das sind aber Vorurteile und in solchen Vorurteilen zeigt sich oft auch Hass gegen jüdische Menschen. Zum Beispiel auch wegen ihrer Religion. Viele jüdische Menschen wurden wegen dem Hass auf jüdische Menschen und dem Hass auf die jüdische Religion getötet. Ein sehr schlimmes Ereignis war der Holocaust. Darin wurden während des 2. Weltkrieges 6 Millionen jüdische Menschen getötet. Auch heute noch gibt es Hass auf jüdische Menschen und er wird wieder schlimmer. Der Hass hat sich auch verändert. Zum Beispiel sagt man, dass jüdische Menschen keinen eigenen Staat haben sollen. Oder man sagt, dass sie selbst Schuld an politischen Krisen und am Antisemitismus hätten. Noch heute werden jüdische Menschen wegen Antisemitismus getötet.
Der Begriff Antisemitismus ist zusammengesetzt aus ‚anti‘, ‚semit‘ und ‚ismus‘. Dieser Terminus – wortwörtlich ‚Semitengegnerschaft‘ – wurde ab 1879 von Wilhelm Marr popularisiert. Demnach seien Sprecher*innen semitischer Sprachen (Arabisch, Hebräisch, Amharisch etc.) angeblich Teil derselben als minderwertig klassifizierten ‚Rasse‘. Er nutzte den Begriff Antisemitismus aber spezifisch bezogen auf jüdische Menschen, deren gesellschaftliche Stigmatisierung mit säkularen, vermeintlich modernen und aufgeklärten Argumentationen legitimiert werden sollte. Von dieser gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit sind seit der Begriffsentstehung also grundsätzlich Jüdinnen*Juden betroffen. Antisemitismus drückt sich in vorurteilsbehafteten, generalisierenden und entmenschlichenden Einstellungen gegenüber Jüdinnen*Juden aus. Diese können in ausschließenden, diskriminierenden und gewaltvollen Handlungen gegen Jüdinnen*Juden als Einzelpersonen oder als jüdische Kollektive (Vereine, staatliche und religiöse Einrichtungen) münden, beispielsweise, wenn Synagogen und jüdische Friedhöfe gezielt beschädigt werden.
Der in der Moderne entstandene nationalsozialistische Rassenantisemitismus greift in seiner Feindbildkonstruktion auf den klassisch religiösen Antijudaismus zurück. Bereits früh in der Geschichte grenzte sich das Christentum kontrastierend vom Judentum ab. Führende Kirchenväter sowie spätere Geistliche wie Martin Luther kennzeichneten Jüdinnen*Juden dabei mit abwertenden Zuschreibungen. Diese bildeten einen ‚kulturellen Wissensspeicher‘, der als Grundlage für antisemitische Agitationen bis heute fungiert. So wurde mittels der Ersetzungstheologie des Christentums, also der Behauptung, das Judentum abgelöst zu haben, eine christliche Überlegenheit begründet, die auch gegenwärtige rechtsextreme Ideologien prägt. Des Weiteren begann man, Jüdinnen*Juden maßgeblich mit Judas, der Jesus für Geld hintergangen haben soll, zu assoziieren. Dadurch etablierte sich ein Bild von jüdischen Menschen als nicht vertrauenswürdig und verräterisch. Das Stereotyp einer vermeintlich ‚jüdischen Gier‘ existiert auch weiterhin und ist Bestandteil anderer antijüdischen Typisierungen. Durch solche Unterstellungen wurden diskriminierende Maßnahmen sowie Vertreibungen und antisemitische Massaker – sogenannte Pogrome – gerechtfertigt. Jüdinnen*Juden fungierten in Krisenzeiten immer wieder als Sündenböcke, z.B. für gesellschaftliche Notlagen wie wirtschaftliche Missstände oder Epidemien. Der Vorwurf des vermeintlichen ‚Gottesmordes‘, also die kollektive Kennzeichnung von Jüdinnen*Juden als ewige Schuldige für die Kreuzigung von Jesus, war der Schwerwiegendste. Denn die damit einhergehenden Vorurteile beeinflussten viele judenfeindliche Mythen wie z.B. die ‚Ritualmordlegende‘, welche zuhauf als Begründung für antijüdische Gewalt gebraucht wurde.
Jüdische Menschen in der islamischen Theologie, spezifisch im Koran, werden ambivalenter dargestellt als im ‚Neuen Testament‘. Es bestehen jedoch Parallelen unter anderem hinsichtlich der Konzeption von Jüdinnen*Juden, welche nicht zur neuen Religion konvertierten. Sie werden als etwas Gegensätzliches zu bestimmten muslimischen Glaubens- und Wertvorstellungen konstruiert.
Einige abwertende Vorstellungen über jüdische Menschen wurden im 19. und 20. Jh. aus christlichen in muslimische Regionen importiert. Dazu gehören Erzählungen einer vermeintlichen jüdischen Weltverschwörung, welche durch die Verbreitung der ‚Protokolle der Weisen von Zion‘ in vielen Teilen der Welt antisemitische Haltungen noch immer befeuert. Dieser ursprünglich von der zaristischen Geheimpolizei Russlands erfundene und im Umlauf gebrachte Bericht über das Treffen eines ‚internationalen Judentums‘ fand auch in der nationalsozialistischen Propaganda häufige Verwendung. Das Narrativ, von Jüdinnen*Juden als über Grenzen hinweg geheim agierenden Interessenvertreter*innen externer Gruppen ging Hand in Hand mit dem im 19. Jh. etablierten auf pseudowissenschaftlicher Rassenlehre basierenden Antisemitismus. Dabei sei eine Eigenschaft des Jüdischseins, dass man es potenziell verstecken könne. Deswegen war die Identifizierung von jüdischen Personen ein Anliegen des NS-Regimes. Obwohl ihnen bestimmte phänotypische Merkmale wie große Nasen, dunklere Haare und Haut zugeschrieben wurden, zwang man sie gleichzeitig, sich als jüdisch preiszugeben. Taufe, Verbannung oder Unterdrückung als Antwort auf die sogenannte ‚Judenfrage‘ galt dem NS-Regime jedoch nicht mehr als ausreichend. Stattdessen wurde die Vernichtung als ‚Erlösung‘ von einem vermeintlich bedrohlichen Bösen, welches von der jüdischen Minderheit ausgehen soll, angestrebt.
Diese Denkweise mündete im Holocaust. Antisemitismus endete aber nicht nach der Schoah (der hebräische Begriff für den Genozid an Jüdinnen*Juden, wortwörtlich übersetzt ‚Katastrophe‘). Noch heute wird in Verschwörungsgeschichten Jüdinnen*Juden nachgesagt, als im verborgenen handelnde Akteure international Medien, Märkte und Regierungen zu kontrollieren. Da aber aktuell Antisemitismus gesellschaftlich größtenteils tabuisiert und strafbar ist, wird er häufig über codierte ‚Umwegkommunikation‘ verbreitet. Das heißt, man spricht nicht wortwörtlich von ‚Jüdinnen*Juden‘ oder ‚Judenpresse‘. Stattdessen werden damit assoziierte Ausdrücke wie ‚Lügenpresse‘, ‚globalistische Eliten‘ oder ‚Bänker*innen von der Ostküste‘ verwendet, die mit geläufigen antisemitischen Stereotypen aufgeladen sind.
Nach dem Holocaust entwickelte sich der ‚sekundäre Antisemitismus‘ – auch ‚Schuldabwehrantisemitismus‘ genannt: Unter die (deutsche) Erinnerungskultur soll in dieser Form des Antisemitismus ein ‚Schlussstrich‘ gezogen werden. Gleichzeitig wird häufig eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben, wobei impliziert wird, dass jüdische Menschen selbst verantwortlich für den Holocaust seien, wodurch dieser gerechtfertigt, relativiert oder komplett geleugnet wird.
Als antisemitische Gewalt, insbesondere von staatlicher Seite, gilt jedoch nicht nur der Ausschluss von gleichberechtigter gesellschaftlicher Teilhabe, Angriffe auf jüdische Institutionen oder die physische Vernichtung von Jüdinnen*Juden. In den Worten der Soziologin Helen Fein (1987), ist es auch antisemitisch, wenn das Ziel verfolgt wird „to […] destroy Jews as Jews“ (Jüdinnen*Juden als Jüdinnen*Juden zu zerstören). Damit ist gemeint, dass Jüdinnen*Juden, um zu überleben oder um keine Diskriminierung zu erfahren, dazu gedrängt werden, die Auslebung des Judentums aufzugeben, wie zu Zeiten der spanischen Inquisition oder des sowjetischen Regimes.
Eine weitere im 20. Jh. entstandene antijüdische Gruppenfeindlichkeit ist israelbezogener Antisemitismus. Dieser drückt sich dadurch aus, dass ausschließlich dem jüdischen Volk das Selbstbestimmungsrecht, z.B. das Leben in einem eigenen Staat, abgesprochen wird. Bei dieser Form des Antisemitismus werden klassische antisemitische Vorurteile und Narrative, häufig latent, auf Israel als jüdisches Kollektiv übertragen. Dabei werden häufig Generalisierungen genutzt, z.B. wird nicht zwischen Israelis, Jüdinnen*Juden, und Zionist*innen unterschieden. Auch die Gleichsetzung des Staates Israel mit dem NS-Regime bzw. Israelis mit Nationalsozialist*innen sowie jüdische Menschen in der Diaspora für die politischen Entscheidungen Israels kollektiv schuldig zu sprechen, ist antisemitisch. Keine jüdische Person sollte Opfer von Antisemitismus sein, unabhängig davon, ob und was für eine Beziehung sie zum Staat Israel oder zum Zionismus hat.
Antisemitismus wirkt weniger als eine konsistente Ideologie. Deswegen können auch politisch gegensätzliche Gruppen zu denselben gefährlichen Schlüssen über eine von Jüdinnen*Juden bedrohte ‚heile Welt‘ kommen. Durch seine Heterogenität an etablierten Feindbildern und Haltungen fungiert er als Ansammlung verbreiteter Narrative über jüdische oder mit diesen assoziierten Personen. Sie werden zur Projektionsfläche für bestimmte unerwünschte Aspekte der Moderne. Je nach Bedarf werden Jüdinnen*Juden als Verantwortliche für Kommunismus, Kapitalismus, (westlichem) Imperialismus, Multikulturalismus, Feminismus, Säkularisierung oder Globalisierung markiert.
Der Antisemitismus erhält seine nachhaltige Wirkungsmacht dadurch, dass er einen theoretischen Rahmen bietet, um komplexe Weltgeschehnisse scheinbar erklärbar zu machen, störende Widersprüche aufzulösen und eindeutige Schuldtragende zu benennen.
Antisemitismus basiert wie Ableismus auf Überzeugungen von ‚natürlichen‘ Hierarchien und den dadurch legitimierten Wahrnehmungen und Verhaltensweisen. Diese sind in heutigen Gesellschaften tief verankert. Um Antisemitismus nicht zu reproduzieren, sollte die Betroffenenperspektive gestärkt und gesellschaftlich sichtbar gemacht werden. Damit einher gehen Sensibilisierungsmaßnahmen über die Lebensrealitäten marginalisierter Gruppen und Minderheiten. Bildung und Aufklärung in Form von Wissenserweiterung sind ebenso Maßnahmen, um den gesellschaftlichen Fokus dahingehend zu reflektieren, um antisemitisches Gedankengut und diskriminierendes Verhalten in der Bevölkerung zu reduzieren.