Ableismus (Ableism)

Wenn man ableistisch denkt, dann hält man Menschen mit perfekten und gesunden Körpern, die keine Behinderungen oder Beeinträchtigungen haben, für erstrebenswert. Nur solche Körper sind dann leistungsfähig und nur Menschen mit solchen Körpern sind dann ‚normal‘ oder ‚gesund‘. Alle Menschen, die nicht solche Körper haben, gelten dann als ‚nicht normal‘. Im Ableismus (englisch: Ableism) denkt man, dass das Leben von Menschen, die andere Körperformen oder Behinderungen haben, nicht so viel wert ist wie das Leben in ‚perfekten‘ und ‚gesunden‘ Körpern. Wenn man solche Unterschiede macht, dann führt das auch zu Diskriminierung aller Menschen, die aus Sicht der Gesellschaft ‚anders‘ sind.

Der Begriff Ableism stammt aus dem Kontext der Disability Studies und wird auch in der deutschsprachigen Diskussion verwendet, da er eine andere Stoßrichtung und Konnotation hat als Begriffe wie ‚Behindertenfeindlichkeit‘. Es handelt sich um eine Wortschöpfung aus dem Adjektiv ‚able‘ (deutsch: „fähig“, „arbeitsfähig“, „leistungsfähig“, „kompetent“ usw.) und der Endung „-ism“ (deutsch: „-ismus“) analog zu anderen Begriffen, die ein strukturelles Machtverhältnis umschreiben (wie Rassismus oder Sexismus). Die einflussreichste Definition stammt von der Disability Studies Vertreterin Fiona Kumari Campbell. Sie versteht unter Ableism ein Netzwerk an Vorstellungen, Prozessen und Praxen, die eine bestimmte Art von Selbst und Körper als Standardmodell erzeugen, das als das perfekte, für die gesamte Spezies typische und daher als wesentlich und vollkommen menschliche Modell gilt. Nichtbehinderung gilt so als die unausgesprochene, selbstverständliche Norm und als die einzig begehrenswerte Existenzweise. Behinderung (englisch: „disability“, also auch sprachlich das Gegenteil von „ability“) wird in Abgrenzung dazu dann als verminderter Zustand des Menschseins gesehen, den es um jeden Preis zu verhindern gilt. Behinderung wird als das ‚Andere‘, als Gegenteil von vermeintlich erstrebenswerten Zuständen wie Perfektion, Gesundheit, (Leistungs-)Fähigkeit, Kompetenz usw. konstruiert. Behinderung dient u.a. als Abgrenzungsfolie, damit sich die Menschen ohne Behinderungen ihres Status als ‚normal‘ versichern können. Normalität wird also mit einer bestimmten Form der Verkörperung gleichgesetzt.

Im Gegensatz zum Begriff der Behindertenfeindlichkeit geht der Begriff Ableism also weiter und legt den Fokus nicht auf individuelle (negative) Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung, sondern auf eine grundlegende Struktur und Ideologie der Gesellschaft, die sich an Idealen wie der Leistungsfähigkeit und dem perfekten oder schönen Körper orientiert (siehe auch: Lookism, Sanism). Beispielsweise zeigt sich dies auch in pädagogischen Modellen über standardmäßig zu durchlaufende Entwicklungsstadien von Kindern und Jugendlichen zum Erwachsenenstatus, der mit geistiger und körperlicher Vollendung assoziiert wird. Die Perspektive des Ableism ermöglicht eine kritische Analyse der Entstehung und Aufrechterhaltung der Norm des gesunden, starken, leistungsfähigen Körpers und Geistes, nicht nur Forschung zur ‚Abweichung‘ Behinderung. Es findet also ein Perspektivwechsel statt: von der Problematisierung von Behinderung hin zur Problematisierung und Dekonstruktion von Normalität/Nicht-Behinderung. Ableism als Konzept kann so auch aufzeigen, wie tief Vorstellungen, die zur Herabsetzung und zum Ausschluss von Menschen führen, die als behindert kategorisiert werden, in unserer Kultur und Gesellschaft verankert sind und dass ein grundlegendes Umdenken nötig ist, um diese zu verändern.

Campbell argumentiert sogar noch weitergehend dahin, dass die prinzipielle Unterscheidung in ein perfektioniertes, naturalisiertes Menschsein und ein abweichendes, undenkbares, quasi-menschliches Hybrid, das letztlich als nicht-menschlich gilt (Behinderung), die Grundlage für sämtliche Vermessungen, Kategorisierungen und Ordnungen von Körpern per se ist. Ableism erscheint so als eine wesentliche Ursache der Differenzierung von Menschen in vermeintlich unterschiedliche Gruppen und Diskriminierungsprozesse per se. Das Konzept das ‚Sanism‘ befasst sich ebenfalls damit, inwiefern das (aufklärerische) Ideal der Vernunft die Grundlage für diverse strukturelle Machtverhältnisse wie Adultismus, Sexismus, Rassismus usw. bildet. Auf jeden Fall bietet die Ableism-Perspektive auch eine Hinterfragung der Sinnhaftigkeit sowie der Folgen der Unterscheidung behindert/nicht-behindert selbst.


Literatur

  • Campbell, Fiona Kumari (2009): Contours of ableism. The production of disability and abledness. Houndmills: Palgrave.
  • Maskos, Rebecca (2011): „Bist du behindert oder was?!” Behinderung, Ableism, und souveräne Bürger_innen. Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „Jenseits der Geschlechtergrenzen“ der AG Queer Studies und der Ringvorlesung „Behinderung ohne Behinderte!? Perspektiven der Disability Studies“, Universität Hamburg, 14.12.2011.
    Online unter www.zedis-ev-hochschule-hh.de/…, Stand: 26.10.2022
  • Schöne, Andrea (2022): Behinderung und Ableismus. Münster: Unrast.
  • Stone, Sharon Dale (1995): The Myth of Bodily Perfection. In: Disability & Society, 10. Jg., H. 4, S. 413-424. DOI: 10.1080/09687599550023426.
  • Tervooren, Anja (2002): Der verletzliche Körper als Grundlage einer pädagogischen Anthropologie. In: Lemmermöhle, Doris/Fischer, Dietlind/Klika, Dorle (Hrsg.): Lesarten des Geschlechts. Zur (De-) Konstruktionsdebatte in der erziehungswissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung. Opladen: Leske + Budrich, S. 245-255.