Paradigmenwechsel bedeutet im Allgemeinen eine grundlegende Änderung des Blickwinkels zu einem gesellschaftlich relevanten Thema. Er stellt somit die Grundlage für eine Weiterentwicklung des Zusammenlebens dar. Inhalt dieses – auf Behinderung bezogenen – Paradigmenwechsel ist es, dass verschiedenartige Beeinträchtigungen nicht als Hilfebedürftigkeit, biologisches oder medizinisches sondern hauptsächlich als ein soziales Problem anzusehen sind, welches durch die derzeitige Gesellschaft konstruiert wird.
Der Paradigmenwechsel innerhalb der Behindertenhilfe ist ein relativ junger Begriff, der stark mit dem Wandel dieser ab Mitte der 80er Jahre zusammenhängt. Während bis in die 70er Jahre das Prinzip der Verwahrung innerhalb der Behindertenhife im Vordergrund stand, wandelte sich dies in die Richtung von Selbstbestimmung und Chancengleichheit. Gründe für diese Veränderung waren, dass aufgrund verschiedener, parallel ablaufender, gesellschaftlicher, politischer, rechtlicher und fachlicher Entwicklungen ein Wandel im Verständnis sowie im Umgang mit Behinderung stattfand. Daher bezieht sich der Begriff des Paradigmenwechsels sowohl auf einen Wandel in den Vorstellungen über den Ort und Inhalt der Unterstützungsleistung sowie auf die sich wandelnde Rolle von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft.
So drückt die innerhalb der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung angewandte Definition aus, dass Menschen mit Behinderung nicht behindert sind, sondern behindert werden. Dabei wird eine Wechselwirkung zwischen Menschen mit Behinderungen und der sozialen Umwelt hergestellt. So heißt es in Artikel 1 der dargestellten UN-Konvention: „Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“. Auch die Weltgesundheitsorganisation beschreibt den Begriff von Behinderung als bio-psycho-soziale Funktionsstörung und nicht als medizinisch-defizitorientiertes Modell.
Bei diesen Begriffsdefinitionen wird deutlich, dass Menschen nicht aufgrund biologischer oder medizinischer Probleme behindert sind sondern durch verschiedenartige soziale Barrieren, die eine gesellschaftliche Teilhabe nicht ermöglichen, behindert werden. Somit wird klar eine Änderung der politischen und gesellschaftlichen Einstellung gefordert, die eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderung unterbinden muss.
Ob ein solcher Paradigmenwechsel innerhalb der Bundesrepublik Deutschland derzeit erfolgt, wird verschiedenartig beantwortet. So ist beispielsweise der Münchner Professor und Rechtsanwalt Dr. Peter Mrozynski der Meinung, dass von einem Paradigmenwechsel innerhalb der Behindertenarbeit nicht gesprochen werden kann, da sich an den vorhandenen Strukturen des deutschen Behindertenrechts nichts geändert habe. Jedoch ist der Siegener Professor Dr. Johannes Schädler der Meinung, dass der Begriff Paradigmenwechsel innerhalb der Behindertenhilfe möglicherweise zu hoch gegriffen scheint, ein Versuch einer Neuorientierung jedoch vielerorts zu erkennen sei. So ist beispielsweise die Idee des Persönlichen Budgets, die Schaffung des SGB IX, das Behindertengleichstellungsgesetz etc. Ausdruck und Resultat einer solchen Neuorientierung.
Stand 2013