Normalisierung bedeutet, dass Menschen mit Beeinträchtigungen ein normales Leben führen können. Sie sollen die gleichen Rechte wie alle Menschen haben, zu leben, wie sich möchten. Sie sollen zum Beispiel auch einen normalen Alltag, Beziehungen und Sexualität haben. Alle Bereiche in der Gesellschaft (z.B. Arbeit, Freizeit, etc.) müssen so organisiert sein, dass auch Menschen mit Beeinträchtigungen darin ein normales und selbstbestimmtes Leben führen und daran teilhaben können. Um ein normales Leben führen zu können, können Menschen mit Beeinträchtigungen Hilfe beantragen, z.B. eine Assistenz oder andere Hilfemaßnahmen.
Das Normalisierungsprinzip drückt aus, dass Menschen mit Beeinträchtigungen das uneingeschränkte Recht haben sollen, ein weitgehend normales Leben zu führen und als vollständiger Teil der Gesellschaft anerkannt zu werden. Das Normalisierungsprinzip trägt somit zur gesellschaftlichen Teilhabe und zur Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen bei. Die Wünsche, Bedürfnisse und Entscheidungen von Menschen mit Beeinträchtigungen sollen dabei gesellschaftlich beachtet und respektiert sowie politisch umgesetzt werden. Ziel dieses Prinzips ist somit die Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigung in die Schul- und Arbeitswelt wie auch die Gestaltung anderer Gesellschaftsbereiche (z.B. Kultur, Sport, Religiosität, Freizeit, Sexualität, etc.) nach ihren Bedürfnissen. Dieser Anspruch auf Gleichstellung findet sich beispielsweise im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) wieder.
Die Anfänge des Normalisierungsprinzips können in Dänemark und Schweden bereits in die 1950er Jahre des letzten Jahrhunderts datiert werden. Das Modell gelangte daraufhin in den 1960er in die USA und Kanada sowie etwa zwanzig Jahre später nach Deutschland. Nennenswerte Verfasser des Normalisierungsprinzips sind unter anderem der Däne Nils Erik Bank-Mikkelsen, der Schwede Bengt Nirje sowie in den USA Wolf Wolfensberger. Im deutschsprachigen Raum kann Walter Thimm als Verfechter des Normalisierungsprinzips genannt werden.
Das Normalisierungsprinzip wird wissenschaftlich in den Disability Studies weiterentwickelt. Während die Disability Studies in den USA und Großbritannien von Beginn an eine „wissenschaftlich orientierte“ soziale Bewegung war, war in Deutschland die Behindertenbewegung eher über politische Aktionen – in der so genannten „Krüppelbewegung“ – organisiert. Die Krüppelbewegung verstand sich als Sprachrohr der Bedürfnisse von Menschen mit Beeinträchtigung und wehrte sich so auch gegen eine Bevormundung durch nicht-behinderte Menschen. Sie wies auf soziale Missstände hin, aus der sie politische Forderungen für die Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen ableitete.
Die Basis, welche das Normalisierungsprinzip als Reformansatz legitimiert, bilden die demokratischen Grundwerte der Gleichheit, der Menschenrechte und der menschlichen Würde. So beschreibt Bank-Mikkelsen das Normalisierungsprinzip folgendermaßen: „Der geistig behinderte Mensch ist an erster Stelle ein Mitmensch, und daher muss er vom Standpunkt der Gleichberechtigung die gleichen Rechte wie sein Mitbürger haben.“ Nirje benennt acht Lebensbereiche, in denen das Normalisierungsprinzip umgesetzt werden sollte:
- Normaler Tagesrhythmus
- Trennung von Arbeit-Freizeit-Wohnen
- Normaler Jahresrhythmus
- Normale Erfahrungen im Ablauf des Lebenszyklus
- Normalen Respekt vor dem Individuum und dessen Recht auf Selbstbestimmung
- Normale sexuelle Lebensmuster ihrer Kultur
- Normale ökonomische Lebensmuster und Rechte im Rahmen gesellschaftlicher Gegebenheiten
- Normale Umweltmuster und -standards innerhalb der Gemeinschaft.
Konkret bedeutet dies, dass Menschen mit Behinderung ihren normalen Alltag nach einem normalen Tages- und Jahresrhythmus leben können, einen normalen Lebensstandard haben können (z.B. durch eine Arbeit und durch verbesserte Wohnverhältnisse), als vollwertige und gleichberechtigte Mitbürger*innen anerkannt werden, die Möglichkeit haben sollen, normale altersgemäße Entwicklungsphasen zu durchlaufen sowie jede Form von Beziehungen einzugehen.
Während der Normalisierungsgedanke in den skandinavischen Ländern sowie der USA und Kanada seit den 60er Jahren weitgehend vertreten ist, nahm dieses Prinzip etwa 20 Jahre später Einfluss auf das deutsche Behindertenwesen und wurde zum Leitgedanken der Heil– und Sonderpädagogik. Somit steht auch in Deutschland mit dem Prinzip der Normalisierung die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen mit Behinderung im Vordergrund.
Jedoch kann diese Entwicklung noch nicht als flächendeckend bezeichnet werden. So muss kritisch angebracht werden, dass es beispielsweise immer noch sehr viele institutionalisierte Lebens-, Arbeits- und Wohnverhältnisse für Menschen mit Behinderungen gibt, bei denen eine Trennung von Arbeit, Freizeit und Wohnen nur schwer realisiert werden kann. Gleichfalls sind in solchen Einrichtungen oft nur wenig individuelle Gestaltungsmöglichkeiten vorhanden, einen individuellen Tages- oder Jahresrhythmus zu leben. Des Weiteren kann in vielen Einrichtungen ein „normaler Lebensablauf“ nicht gewährleistet werden, da die Abläufe im Leben eines Menschen mit Behinderung oft nicht auf dessen Alter oder den individuellen Entwicklungsphasen abgestimmt werden können. Auch werden Kontakte zwischen den Geschlechtern im Sinne der sexuellen Selbstbestimmung nur allmählich gefördert, im Praxisalltag werden beispielsweise oft noch räumliche Geschlechtertrennungen vorgenommen, was sich auf eine weitgehend selbstbestimmte Sexualität hinderlich auswirken kann.
Die UN-BRK, das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) wie auch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) versuchen in diesen Punkten, das Recht von Menschen mit Behinderungen auf eine uneingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe und selbständige Lebensführung weiter zu stärken und umzusetzen.