Jüdische Kontingentflüchtlinge

Nach der Wiedervereinigung Deutschlands gab es sehr wenig jüdisches Leben in der BRD. Gleichzeitig hatte sich die Sowjetunion aufgelöst, wo eine vergleichsweise große Zahl von jüdischen Menschen lebte. Viele wollten aus den Nachfolgestaaten auswandern oder flüchten. Deutschland war dabei eines der beliebtesten Ausreiseziele. Um die jüdische Gemeinde in der BRD wieder kontrolliert aufzubauen, brauchte es eine Regelung, wie man jüdische Menschen aufnehmen kann. Dazu veränderte man ein bereits existierendes Gesetz, das Kontingentflüchtlingsgesetz heißt. Danach kamen bis 2005 ca. 220.000 jüdische Menschen nach Deutschland. Bis 2005 musste man nur nachweisen, dass man jüdisch ist. Zum Beispiel über die Geburtsurkunden der Eltern. Seit 2005 wurde dieses Gesetz angepasst. Nun muss man auch geringe Deutschkenntnisse haben und zeigen, dass man sich gut integrieren kann. Mit diesem Gesetz kamen viele jüdische Menschen nach Deutschland. Sie werden von anderen jüdischen Menschen manchmal nicht als ‚jüdisch‘ angesehen. Zum Beispiel weil ihre Mütter nicht jüdisch sind, sondern nur ihre Väter. Sie erleben auch judenfeindlichen Hass von anderen Menschen, weil sie jüdisch sind. Die Geschichten jüdischer Kontingentflüchtlinge sind vielen Personen in Deutschland unbekannt.

Jüdische Kontingentflüchtlinge sind eine Gruppe von Migrant*innen aus Staaten, die ehemals zur Sowjetunion (UdSSR) gehörten und seit den 1990ern nach Deutschland einwandern. Die jüdischen Gemeinden in der BRD zählten 1991 knapp 30.000 Mitglieder und drohten wegen Überalterung weiter zu schrumpfen. Zeitgleich waren Jüdinnen*Juden in den Nachfolgestaaten der zu dieser Zeit erst kurz zuvor aufgelösten UdSSR mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten und gesellschaftlichem Antisemitismus konfrontiert. Bereits 1990 ermöglichte die DDR jüdischen Menschen, ein ständiges Aufenthaltsrecht zu erhalten, was einige dazu bewegte, nach Ostberlin zu emigrieren. Im darauffolgenden Jahr einigten sich auch die BRD und der Zentralrat der Juden während der Innenministerkonferenz auf eine Regelung, welche die rege Zuwanderung jüdischer Personen aus der ehemaligen Sowjetunion in die Wege leitete. In beiden Ländern spielte die Aufarbeitung der deutschen Geschichte eine bedeutende Rolle bei den Entscheidungen. Besonders im Kontext der Neugründung eines gesamtdeutschen Staates konnte die Förderung einer wachsenden jüdischen Gemeinde zusätzliche Legitimation bieten. Als gesetzliche Grundlage dafür wurde eine Adaption der Maßnahme im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen für aufgenommene Flüchtlinge (Hum-HAG) gewählt – das sogenannte Kontingentflüchtlingsgesetz. Hierauf wurde erstmals 1980 bei der Zuweisung vietnamesischer Geflohener nach verbindlichen Kontingenten (Prozentsätzen) auf die Bundesländer zurückgegriffen. Den jüdischen Zuwanderer*innen wurden einige bürokratische Hürden genommen sowie die festgesetzten Jahreskontingente aufgehoben, da Deutschland keine erneuten Quoten für Jüdinnen*Juden verantworten konnte. Deswegen wird aber auch die offizielle Verwendung des Begriffs Kontingentflüchtling kritisiert, da diese jüdischen Menschen nach den Vorgaben der Genfer Flüchtlingskonvention keine Flüchtlinge sind.

Schließlich mussten Einreisewillige für eine erfolgreiche Bewerbung statt einer politischen Verfolgung ihre Zugehörigkeit zum Judentum beweisen. Dabei orientierte man sich an der sowjetischen Kategorisierung von ‚Jüdischsein‘, welches es ausschließlich über die Abstammung definiert. Dafür reichte zum Beispiel die eigene Geburtskunde oder die der Mutter bzw. des Vaters, da dort die Nationalität notiert war. Religiöse oder kulturelle Aspekte jüdischer Identität wurden für die Einordnung als irrelevant erachtet. Sofern die Antragsteller*innen also mindestens einen jüdischen Elternteil hatten, konnten sie und ihre Familienmitglieder, unabhängig davon, mit welcher Religion letztere sich identifizierten, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis in der BRD erhalten.

Bis 2005 kamen auf diesem Wege schätzungsweise 220.000 jüdische Migrant*innen nach Deutschland. Ungefähr die Hälfte von ihnen stammt aus der Ukraine, aber viele reisten auch von Russland sowie von anderen ehemaligen Staaten der Sowjetunion wie z.B. Belarus, Lettland, Moldau und Aserbaidschan ein. Die überwiegende Mehrheit davon spricht als Muttersprache jedoch Russisch. Nach 2005 wurden neue Voraussetzungen für die Einwanderung in die BRD gültig, welche seitdem in regelmäßigen Abständen und unter Beachtung globaler Entwicklungen aktualisiert werden. Zurzeit werden Antragsteller*innen nach einem Punktesystem bewertet. Um eine Einreiseerlaubnis zu erhalten, müssen sie sprachliche Grundkenntnisse im Deutschen und eine positive Integrationsprognose vorweisen, sowie die Option haben, Mitglied einer jüdischen Gemeinde in der Bundesrepublik zu werden. Ausgenommen davon sind Personen, die vor 1945 geboren wurden.

Die Einwanderung nach Deutschland ist für jüdische Kontingentflüchtlinge bis heute mit einigen Schwierigkeiten verbunden. In der UdSSR war das Praktizieren von Religion nur sehr eingeschränkt möglich und mit Diskriminierungsrisken verbunden. Gepaart mit dem dortigen institutionellen und gesellschaftlichen Antisemitismus resultierte dies darin, dass viele jüdische Menschen wenig Wissen über die religiösen Aspekte ihrer Identität besaßen. Dadurch fehlt in einigen Fällen auch das Interesse, ein aktives Gemeindeleben zu führen, da die Beschäftigung mit dem Glauben fremd ist. Zusätzliche Hindernisse bilden dann häufig, besonders kurz nach der Einwanderung, die kulturellen Kontraste und darauf basierende Missverständnisse mit den Mitgliedern, die kein Russisch sprechen. Zudem waren viele der Migrant*innen ausschließlich über ihre Väter jüdisch, was sie aus jüdischen Institutionen häufig ausschloss. Denn für die hauptsächlich orthodoxen Gemeinden in Deutschland gilt man als Jüdin*Jude nur, wenn auch die Mutter jüdisch oder die Person konvertiert ist. Zwar verdreifachte sich in den letzten 30 Jahren die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinden, aber viele finden bis heute keinen Anschluss an diese.

Eine weitere, auch für viele Jüdinnen*Juden signifikante Problematik in der deutschen Migrationspolitik ist die fehlende Anerkennung von Bildungsabschlüssen, die erst 2012 rechtlich gelöst wurde. Bis dahin hatten viele der jüdischen Kontingentflüchtlinge, von denen 70 % Akademiker*innen sind, Schwierigkeiten, fachlich qualifizierte Arbeitsplätze zu finden. Durch die erst späte gesetzliche Anpassung mussten viele im Niedriglohnsektor eine Beschäftigung finden, benötigten permanente staatliche Unterstützung und konnten ihr volles Qualifikations-Potenzial bis heute nicht ausschöpfen. Die Konsequenzen davon trafen besonders ältere Migrant*innen hart , welche zum Zeitpunkt der Einwanderung bereits im Rentenalter waren. Dies resultiert darin, dass 70.000 jüdischen Senior*innen, darunter zahlreiche Holocaustüberlebende und beinahe ein Drittel aller Jüdinnen*Juden in Deutschland unter der relativen Armutsgrenze leben. Zusätzlich dazu sind jüdische Kontingentflüchtlinge weiterhin Anfeindungen sowohl durch Antislawischen Rassismus als auch Antisemitismus ausgesetzt. Antisemitische Anfeindungen haben 2023 mit 5.164 Straftaten in der BRD einen bisherigen Höhepunkt erreicht. Damit diese Zahlen wieder sinken, ist es wichtig, über antisemitische Stereotypen zu informieren, ihnen zu begegnen und z.B. mit den Geschichten jüdischer Kontingentflüchtlinge entgegenzuwirken. Dafür müssten allerdings deren komplexe Lebensrealitäten mehr Raum im Schulunterricht und der deutschen Medienlandschaft erhalten.


Literatur

  • Belkin, Dmitrij (2017): Jüdische Kontingentflüchtlinge und Russlanddeutsche. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Russlanddeutsche und andere postsozialistische Migranten.
    Online unter www.bpb.de/…, Stand: 03.07.2024
  • Bernstein, Julia (2021): Man hat Juden erwartet und es sind Menschen gekommen. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Jüdisches Leben in Deutschland.
    Online unter www.bpb.de/…, Stand: 03.07.2024
  • Dietz, Barbara/Roll, Heike (2017): Die Einwanderung aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten. In: Witzlack-Makarevich, Kai/Wulff, Nadja (Hrsg.): Handbuch des Russischen in Deutschland. Migration - Mehrsprachigkeit – Spracherwerb, Bd. 5. Berlin: Frank & Timme, S. 101–114.
  • Gorelik, Lena (2008): Zwischen Integration und Isolation: Russische Juden in Deutschland, In: OST-WEST Europäische Perspektiven, Jg. 3.
    Online unter www.owep.de/…, Stand: 03.07.2024
  • Smilga, Julia (2021): 30 Jahre jüdische Zuwanderung. Ausgerechnet Deutschland! In: deutschlandfunkkultur.de (06.01.2021).
    Online unter www.deutschlandfunkkultur.de/…, Stand: 03.07.2024